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Feature: København - H. C. Andersens Schneckensammlung und andere Geschichten aus Kopenhagen l Glitzern & Denken

Tom Schiøtte and Martin Vinther Sørensen with the original Neopilina galatheae © Martin Vinther Sørensen

Unsere kommende Show im November 2020 heißt "Schleimig!" und beschäftigt sich mit Weichtieren, entsprechend interessieren wir uns für Schnecken und Kunst. Wir wurden also sehr neugierig, als wir erfahren haben, dass unsere Kollegen Tom Schiøtte und Martin Vinther Sørensen vom Statens Naturhistoriske Museum, dem naturhistorischen Museum in Kopenhagen, die Schneckensammlung des Dichters Hans Christian Andersen betreuen, der die „Kleine Meerjungfrau“ und andere bekannte Geschichten verfasst hat. Wir wollten wissen, was so besonders an dieser Sammlung ist … und wir waren überrascht. Aber lest selbst.

David: Vielen Dank, Tom und Martin, dass ihr euch die Zeit nehmt, unsere Fragen zu beantworten. Also, was ist so besonders an der Schneckensammlung von H.C. Andersen?
Tom & Martin: Ehrlich gesagt ist die Sammlung vor allem von einem historischen Wert, weniger von einem wissenschaftlichen. Andersen sammelte die Schnecken, weil sein Freund Jonas Collin ihn darum bat. Collin interessierte sich für Naturkunde und die Erforschung der Schnecken und wusste, dass Andersen regelmäßig die Villen adeliger Familien als Hausgast besuchte. Anscheinend wollte Collin Andersen in diesen Tagen eine sinnstiftende Aufgabe geben, also bat er ihn darum, in den Gärten und der Umgebung der Villen Schnecken zu sammeln.

Andersen und Collin kannten sich, weil der Dichter von dessen Familie unterstützt wurde, als er noch jung und unbekannt war. Sie hatten sich auf einer gemeinsamen Reise angefreundet, waren aber ein ungleiches Paar: ihr Altersabstand betrug über 30 Jahre und sie lieferten sich anscheinend fortlaufend Streitgespräche. Nichtsdestotrotz hielt ihre Freundschaft viele Jahre und ist durch ihren Briefkontakt dokumentiert. Folgender Auszug gibt einem eine Vorstellung davon, wie sie wohl miteinander kommuniziert haben:
Andersen: „Aus Ihrem letzten Brief schließe ich, dass Sie die Schnecken, die ich Ihnen zugesandt habe, nicht zu schätzen wissen.“
Collin: „Ich schätze sie doch sehr! Aber vielleicht könnten Sie etwas genauer mit Ihrer Sammlung sein und sich mehr auf die kleine Schnecke mit einem Loch auf der Unterseite konzentrieren.“
Andersen: „Mir scheint es, dass alle Schnecken ein Loch auf der Unterseite haben …“

In einem späteren Brief bekam Collin die Chance, sich dafür zu revanchieren. Andersen hatte eine Gartenschnecke gefangen, diese dann wieder verloren und sie unter dem Küchentisch wiedergefunden. Er legte sie dann in eine Seifenschale mit einem Deckel, aber die Haushälterin warf die Schnecke am folgenden Tag einfach aus dem Fenster. Als er dies Collin mitteilte, antwortete dieser mit köstlichem Sarkasmus:
Collin: „Dass Sie für mich Schnecken sammeln ist wirklich rührend, aber dass Sie diese immer wieder verlieren, hebt den Wert Ihrer Bemühungen auf.“

Das Ergebnis von alledem war tatsächlich wenig beeindruckend, denn die Tierwelt der dänischen Schnecken war zu diesem Zeitpunkt schon gut erforscht. Andersens Sammlung hat also einen historischen Wert und es gibt dazu spannende Geschichten, aber aus einer wissenschaftlichen Perspektive ist die Sammlung, um es ganz ehrlich zu sagen: uninteressant.

David: Andersens Schnecken sind Teil einer umfassenden historischen Sammlung. Gibt es noch andere interessante Objekte?
Tom & Martin: Wir haben z.B. auch eine Schneckensammlung des dänischen Königs Christian VIII. (1786-1848). Aus irgendeinem Grund haben Menschen schon immer gerne Schneckengehäuse gesammelt. Wir haben viele Exemplare, die in den historischen Kabinetten des 18. Jahrhundert benutzt wurden. Es kann manchmal eine Bürde sein, mit diesen Sammlungen zu arbeiten.

David: Eine Bürde?
Tom & Martin: Das ist ein Zitat von unserem verstorbenen Kollegen, dem Kurator für Weichtiere Høpner Petersen. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass diese Sammlungen in einer Zeit zusammengestellt wurden, deren wissenschaftliche Standards ganz anders waren, als wir das heute gewöhnt sind. Wir müssen einiges an „Detektivarbeit“ leisten, um alle relevanten Daten und Metadaten zusammen zu tragen und die Sammlungen auf dieser Basis zu strukturieren. Erst dann können wir dazu wissenschaftliche Aussagen treffen, die den Standards unserer heutigen Zeit gerecht werden. Andere Museen, die modernere Sammlungen haben, haben es da viel leichter.

David: Was kommt euch in den Sinn, wenn ich euch nach einem Objekt von hohem wissenschaftlichen Interesse in eurer Sammlung frage?
Tom & Martin: Wir finden die Neopilina galatheae sehr interessant, ein winziges, uraltes Lebewesen der Tiefsee. Zu Beginn des 20. Jahrhundert kamen einige Foscher*innen zu dem Schluss, dass entsprechend der Evolutionstheorie ein so genannter „Urmollusk“ existiert haben muss, also eine Tierart, von der alle Weichtiere abstammen. Sie spekulierten über die anatomischen Eigenschaften dieses Tieres und erstellte auch eine fiktive Zeichnung. Und 1952 fand dann die dänische Tiefseeexpedition Galathea mit der Neopilina ein Tier, welches der Zeichnung des „Urmollusks“ sehr ähnelte.

David: Faszinierend. Das heißt, wir können uns auf Grundlage der Evolutionstheorie ausdenken, wie Tiere ausgesehen haben müssen und diese dann später tatsächlich in der Natur finden?
Tom & Martin: Ja, genau. Aus jüngerer Forschung wissen wir, dass die Neopilina wahrscheinlich nicht die Großmutter aller Weichtiere ist, sondern eine abgeleitete Art. Aber wir finden, dass das trotzdem eine sehr spannende Geschichte über die biologische Forschung ist.

David: Das finde ich auch. Meine letzte Frage: Unser Projekt Glitzern & Denken verbindet Kunst und Wissenschaft. Habt ihr in eurer Arbeit etwas mit Kunst zu tun?
Tom & Martin: Wir haben uns an verschiedenen Ausstellungen beteiligt, die sich mit der Schönheit und Geometrie der Schalen von Weichtieren beschäftigt haben. Wir haben dafür unsere Objekte zur Verfügung gestellt und auch mit Kunstmuseen kooperiert.

David: Vielen Dank für eure Zeit und dieses spannende Interview.

Übrigens: Die großen Naturkundemuseen verstehen sich als eine gemeinsame wissenschaftliche, globale Infrastruktur, in der auch das Museum für Naturkunde Berlin Verantwortung übernimmt und sein Wissen weltweit zur Verfügung stellt. Auch vor diesem Grund ist Tyrannosurus rex Tristan Otto aktuell im Statens Naturhistoriske Museum in Kopenhagen zu sehen – für die Forschung, für mehr Wissenstransfer und für Natur.