Ein Interview mit Enea Conte
In Naturkundemuseen stehen meist Sammlungsstücke wie Präparate, Fossilien und Proben im Mittelpunkt des Interesses: Sie validieren die wissenschaftliche Forschung, dienen als Lehrmittel und werden in – mitunter spektakulären – Installationen ausgestellt. Fotoarchive hingegen rangieren in der Regel eher weit unten in der Sammlungshierarchie. Konventionellen Auffassungen folgend, werden Fotografien oft als bloße Kopien dessen betrachtet, was einst vor dem Objektiv einer Kamera stand. In den letzten Jahren haben Historiker*innen jedoch wiederholt auf die Bedeutung von fotografischem Archivmaterial hingewiesen: Fotografien sind epistemische Objekte, die Wissen in vielfältiger Weise konfigurieren. Sie dokumentieren nicht nur den Stand der wissenschaftlichen Forschung zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern helfen auch, Institutionsgeschichten zu verstehen und zu rekonstruieren (Gräfe/Bärnighausen 2021). Sie können sogar dazu dienen, einst getrennte Sammlungsobjekte wieder zusammenzuführen – wie im Fall von Enea Conte, Präparator und Konservator am Museum für Naturkunde in Berlin. Sein ungeplanter Ausflug in die Bildarchive des Museums hat zu manch neuen Erkenntnissen geführt. Derlei Glückstreffer, die sowohl durch den Zufall als auch durch eine fundierte wissenschaftliche Intuition begünstigt werden, bedürfen einer Offenheit für sämtliche Quellen, die ein Museum zu bieten hat. Manchmal entpuppt sich dabei gerade das scheinbar Nebensächliche als das Wesentliche.
Hallo Enea, bitte erzähle uns ein wenig über deinen Hintergrund.
Ich bin Restaurator für naturgeschichtliche Objekte und habe einen Master-Abschluss in osteologischer Präparation und Konservierung von der Royal Danish Academy of Fine Arts - School of Conservation in Kopenhagen. Zuvor habe ich im Naturhistorischen Museum von Kopenhagen (Statens Naturhistoriske Museum) und im Nationalmuseum von Dänemark (Nationalmuseet) gearbeitet. Seit Mai 2023 arbeite ich am Museum für Naturkunde in Berlin.
Wie sieht deine Arbeit im Museum aus?
Als Restaurator und Präparator, der sich auf historische Präparationstechniken für Skelette spezialisiert hat, war es naheliegend, dass eines der ersten größeren Projekte, die ich am Museum für Naturkunde Berlin übernommen habe, die Restaurierung und Konservierung einer Gruppe alter artikulierter Walskelette ist.
Was bedeutet "artikuliert" in diesem Fall?
Artikuliert ist ein konservatorischer Begriff für 'zusammengesetzt'. Museen unterscheiden zwischen artikulierten und disartikulierten Skelettpräparaten. Ein artikuliertes (oder zusammengesetztes) Skelett wird in der Regel für Ausstellungszwecke verwendet, während ein disartikuliertes Skelett (lose Knochen) meist in Kisten für wissenschaftliche Studien aufbewahrt wird.
Die zuvor erwähnten Walskelette waren nicht vollständig intakt, richtig? Wie kam es dazu?
Da die Walskelette mehr als 150 Jahre alt sind und zwei Weltkriege überlebt haben, fehlen hier und da ein paar Knochen, aber insgesamt sind sie fast unversehrt. Den drei bereits erwähnten Walskeletten ist gemeinsam, dass ihnen allen der Schädel fehlt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es gängige Praxis, Skelette zu zerlegen, um Platz zu sparen und sie damit besser für wissenschaftliche Zwecke nutzbar zu machen. Darüber hinaus wurden und werden Schädel und postkraniale Skelette bis heute in getrennten Sammlungen aufbewahrt.
Wie bist du bei der Rekonstruktion der Walskelette vorgegangen?
Nur eines der Walskelette, ein Narwal (Monodon Monoceros), lieferte genügend Daten, um den eigentlichen Schädel mit Sicherheit zu lokalisieren. Bei den anderen beiden Walen – einem Orca (Orcinus orca) und einer nicht identifizierten Walart – war die Aufgabe, Skelett und Schädel wieder zusammenzufügen, weniger einfach zu lösen.
Warum nicht? Welche Daten fehlten?
Im Fall des Narwals hatten der Schädel und das postkraniale Skelett die gleiche Museumsnummer, so dass sie leicht wieder zusammengeführt werden konnten. Im Falle der beiden anderen Skelette war die Aufgabe leider nicht so einfach, da die Nummern nicht übereinstimmten. Auf den alten Etiketten waren lediglich einige auf Vermutung basierende Angaben einer ehemaligen studentischen Hilfskraft vermerkt. So war ich gezwungen, anderswo nach Antworten zu suchen, was mich unerwartet in das Bildarchiv des Museums führte.
Wie hat deine Reise in die Bildersammlung begonnen?
Auf Anregung einer Kollegin, der Historikerin Catarina Madruga, wandte ich mich an das Archiv unseres Museums und bat um möglichst viele historische Fotografien von Walskeletten und Walexemplaren im Allgemeinen, in der Hoffnung, einige Bilder von den Walskeletten zu finden, an denen ich gerade arbeitete. Zum Zeitpunkt meiner Anfrage konnte das Personal des Archivs keine analogen Abzüge ausfindig machen, sodass wir auf Digitalisate zurückgegriffen haben.
Historische Fotografien sind normalerweise nicht Teil der Arbeit von Restauratoren, oder?
Meiner Erfahrung nach ist die Verwendung von Archivmaterial im Bereich der naturkundlichen Konservierung nicht besonders üblich. Wenn allerdings historisches Bildmaterial vorhanden ist, ist dies sehr willkommen.
Was hast du im Archiv gefunden?
Ich bin das bereitgestellte Material durchgegangen – und tatsächlich befanden sich alle drei Wale, die ich zu finden hoffte, auf zwei historischen Fotos eines unbekannten Fotografen. Eines in Schwarz-Weiß und das andere in Brauntönen, die beide die ersten Ausstellungen des Museums Ende des 19. Jahrhunderts zeigen. Damals befanden sich alle drei Walskelette unterhalb der Skelette der riesigen Bartenwale im Hauptsaal der Ausstellung, der heute als Sauriersaal bekannt ist.
Welch ein Erfolg! Auf welche Bilddetails hast du besonders geachtet?
Mir ist etwas aufgefallen, das noch interessanter als die drei Skelette ist, nach denen ich ursprünglich gesucht habe: Auf dem braunstichigen Foto ist ein kleiner Bartenwal auf einem gusseisernen Ständer zu sehen, neben dem ein Mann in der Mitte des Bildes steht. Ich erinnerte mich, dass ich diesen Schädel und seinen Ständer breites an zwei verschiedenen Stellen des Museums gesehen habe. Ein kurzer Rundgang durch die Sammlung ergab, dass ich richtig lag. Der Schädel befand sich in einer Vitrine mit einigen der Walschädel, die ich mir zuvor angesehen hatte, während der Ständer im unteren Teil eines Lagerraums verstaut war. Der nächste Schritt bestand darin, den Ständer von mehr als einem halben Jahrhundert Staub zu befreien und ihn testweise mit dem Schädel zusammenzusetzen.
Und stimmten die Teile überein?
Alles passte perfekt zusammen. Die Schraubenlöcher im Schädel und im Ständer stimmten überein. Ein historisches Stück wurde wiederhergestellt und vor dem Vergessen bewahrt. Die Rekonstruktion von Teilen, die eigentlich zusammen gehören, ist eines der großen Ziele der Konservierung, und es ist umso erfreulicher, wenn dies wie in diesem Fall durch Zufall geschieht – dank unserer umfangreichen Archive und ihrer Zugänglichkeit.
Vielen Dank, Enea, für das Gespräch. Wir freuen uns sehr auf deine zukünftigen Entdeckungen.
Steckbrief
- Titel: o.T. [Atrium mit Walen und anderen Säugetieren]
- Signatur: ZM B III 1505
- Provenienz: Historische Bild- und Schriftgutsammlung, Museum für Naturkunde
- Material: Fotografischer Abzug
- Urheber*in: unbekannt
- Zeit der Entstehung: ca. 1893
- Ort der Entstehung: Berlin
- Verschlagwortung: Konservierung, Fotografie, Präparation, Druck, Rekonstruktion, Wal
Literatur
Arianna Bernucci, Lorraine Cornish, and Cheryl Lynn: "Blue whale on the move: Dismantling a 125 year-old specimen", in: Proceedings of Green Museum–How to practice what we preach? 2016 SPNHC conference 31st Annual Meeting June 20–25, Berlin 2016, S. 88–90.
Elizabeth Edwards und Janice Hart (Hg.): Photographs Objects Histories: On the Materiality of Images, Routledge: New York 2004.
Elodie Guilminot et al.: "The conservation of fatty bones: Research of a degreasing treatment for a whale skeleton", in: Archeo Sciences, Band 35, Heft 1 (2011): S. 201–212.
Elodie Guilminot et al.: "Re-treatment of whale bones – How to extract degraded fats from weakened bones", in: Journal of cultural heritage, Band 15, Heft 2 (2014): S. 128–135.
Marta Pérez Azcárate, Bernat Font Rosselló, and Eulàlia Garcia Franquesa: "Documenting a historical mounted fin whale skeleton in preparation for a move: a case at the Museu de Ciéncies Naturais de Barcelona", in: Collection Forum, Band 32, Heft 1 (2019): S. 47–58.
Gordon Turner-Walker: "The removal of fatty residues from a collection of historic whale skeletons in Bergen: an aqueous approach to degreasing", in: Proceedings of La conservation des squelettes gras: méthodes de dégraissage, Nantes 2012, 15 Seiten.
Quellen
Führer durch die Schausammlung des Museum für Naturkunde in Berlin. I. Zoologische Sammlung, Berlin 1910.
Abbildungen
- Abb. 1: o.T. [Atrium mit Walen und anderen Säugetieren], Fotografie eines unbekannten Urhebers Museumsführer aus dem Jahr 1910, unbekannter Fotograf, c. 1893, 8 x 10.5 cm, MfN, HBSB, ZM B III 1505, © Carola Radke, MfN.
- Abb. 2: Archivansicht der Fotografie o.T. [Atrium mit Walen und anderen Säugetieren], unbekannter Fotograf, c. 1893, 8 x 10.5 cm, MfN, HBSB, ZM B III 1505, © Carola Radke, MfN.
- Abb. 3: Enea Conte, Restaurator und Präparator in der Säugetierabteilung des Museum für Naturkunde Berlin, mit einer historischen Fotografie der Walhalle um 1893, neben dem Präparat im Jahr 2023 stehend, © Carola Radke, MfN.