Direkt zum Inhalt

Jetzt ist die Zeit

Portrait Dominik Eulberg, umrahmt von Illustrationen heimischer Vogelarten

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Journal für Natur (06/2022).

Der einfachste Schlüssel zum Glück: Wie das Museum für Naturkunde Berlin mit Kunst und Wissen dafür wirbt, dass wir unsere Augen und Herzen öffnen – und die Natur neu lieben lernen.

Diese Vielfalt der Formen, Farben und Klänge. Der Gesang einer Nachtigall etwa. Plötzlich, an einem Frühlingsabend, ist sie da und zwitschert in der Dämmerung ihre betörenden Lieder, die aus bis zu 300 Strophen bestehen können. Oder das blau schillernde Gefieder eines Eisvogels, der über einen Bachlauf schießt. Für Dominik Eulberg sind dies die kleinen Wunder der Natur, deren Schönheit und Raffinesse uns in Entzückung versetzen – wenn wir sie denn beachten. "Die Freude über einen Eisvogel oder den Gesang einer Nachtigall kann so wahrhaftig sein, dass jede Zelle in einem jubiliert", sagt Eulberg. "Mikroorgasmen" nennt er diese Momente des tiefen Glücks im Angesicht der Natur. Eulberg ist ein international bekannter Techno-DJ, Musikproduzent und Ökologe. Am Museum für Naturkunde Berlin verbindet er diese Welten, seine elektronischen Sounds mit der Naturwissenschaft, das Kreative mit dem Einordnenden. Er trägt den Blickwinkel eines Künstlers in die Forschung, wirft Fragen auf, gibt Denkanstöße und entwickelt spielerische Angebote für die Besuchenden.

Natur und Sound

Sein jüngstes Album "Avichrom", das auf Platz 34 der Deutschen Albumcharts gelandet ist, widmet sich der berauschenden Farbenvielfalt unter den Vögeln – die Lieder heißen Grünfink, Goldregenpfeifer, Rotmilan oder Schwarzhalstaucher. Seit Eulberg Gastwissenschaftler am Museum für Naturkunde Berlin ist, finden im Sauriersaal Biodiversitätsshows statt, in denen Artenvielfalt als Gesamtkunstwerk mit Bildern, Klängen und "Wunderfakten" gefeiert wird. "Wunderfakten", das sind für Eulberg all die belegbaren Wissenshappen über faszinierende Begabungen der Natur, die uns zum Staunen anregen können. Er hat Algorithmen programmiert, die ihre Lieder in Noten umrechnen und Synthesizereffekte auslösen. So ist ein elektronisch erweitertes Getriller entstanden, das von einem Wesen der Natur ausgelöst wird. Ähnliches hat er mit Fledermäusen vor. "Ich werde ihren Echo-Ortungsruf in Berliner Parks live in Noten übersetzen, die Tiere werden im Vorbeifliegen Musik produzieren." Bei Technofestivals hat er das schon Dutzende Male ausprobiert, etwa auf dem Brandenburger Festival "Wilde Möhre", und als ehrenamtlicher Fledermausbotschafter des NABU nächtliche Führungen für Raver:innen angeboten.

Ökologische Botschaften

Seit Eulberg mit seiner Musik erfolgreich wurde, hat er die Bühnen genutzt, die ihm geboten wurden, um ökologische Botschaften unter die Leute zu bringen. Wer sich das Avichrom-Album kauft, erfährt nebenher etwas über die Situation der Wiesenbrüter in Deutschland, wie den Kiebitzen, deren Bestände in den letzten 40 Jahren um 90 Prozent zurückgegangen sind. Das dramatische Insektensterben macht er immer wieder zum Thema, zwischen 1989 und 2016 seien die Bestände in deutschen Naturschutzgebieten um mehr als drei Viertel zurückgegangen. "Die Schäden, die wir der Biodiversität zufügen, werden schneller zu einer Bedrohung für die Menschheit werden als die globale Erwärmung."

Das Verstummen der Natur ist noch aufzuhalten

Das blasse Wesen, das in einem Glas mit gelblichem Alkohol liegt, in einer Vitrine des Museums für Naturkunde Berlin, ist bereits unwiderruflich verloren. Die letzten Exemplare des Chinesischen Schwertstörs wurden vor rund 15 Jahren gesichtet. Gekrümmt und mit breitem, verzerrtem Maul liegt das etwa eineinhalb Meter lange Geschöpf mit Knopfaugen inmitten hunderter anderer Fische aller Formen und Größen, in einem abgedunkelten Raum, der für Besuchende des Museums immer auch einen Gruselfaktor hat: der Nass-Sammlung.

Jörg Freyhof ist Ichthyologe, Fischkundler, und eine Koryphäe auf dem Gebiet der Süßwasserfische. Für Deutschland und Europa koordiniert er die Rote Liste gefährdeter Fischarten. "Der Zustand bei den Fischen ist besorgniserregend, in die aktuelle Rote Liste mussten wir deutlich mehr Arten aufnehmen als in die letzte und wir haben mehr verloren, als wir dachten." Auch in Deutschland sind fast alle Störarten mittlerweile ausgestorben, ebenso der Nordseeschnäpel – insgesamt zehn Prozent aller Fischarten seien nachweislich verschwunden, die tatsächliche Zahl liege aber vermutlich weitaus höher. Umweltbelastung, falsches Fischereimanagement und unkontrolliertes Aussetzen invasiver Arten sind nur drei der vielen Gründe dafür. Anderswo sehe es unter Wasser nicht viel besser aus. Für Nordafrika hat Freyhof berechnet, dass der Artenverlust bei 15 Prozent liegt.

Jörg Freyhof (c) Pablo Castagnola

Artenschutz statt Massensterben

"Es ist bittere Realität, dass wir am Anfang des sechsten Massensterbens stehen, einer vom Menschen massiv erhöhten Aussterberate", sagt Freyhof. "Dabei kennen wir erst einen Teil der irren Vielfalt, die uns umgibt." Dass die Zeit drängt, um die bunte Lebendigkeit um uns herum zu erhalten und damit auch uns selbst zu schützen, wird immer deutlicher. Der neueste Artenschutzbericht des UN-Weltbiodiversitätsrats IPBES warnt davor, dass in den nächsten Jahrzehnten weltweit bis zu eine Million Arten aussterben könnte – mit dramatischen Folgen auch für die Menschheit. In diesem Jahr soll daher endlich ein neues Weltnaturabkommen im chinesischen Kunming verhandelt werden, um das Verstummen der Natur doch noch aufzuhalten. Denn das letzte, 2010 im japanischen Nagoya vereinbarte, ist mit seinen Zielen kläglich gescheitert. "Zum Glück ist die Natur widerstandsfähig und kann sich erholen, aber dafür braucht es dringend einen viel höheren Stellenwert des Arten- und Naturschutzes", sagt Freyhof.

Leidenschaft und Fachwissen, um die Artenvielfalt zu bewahren

Wie viele Forschende Museum für Naturkunde Berlin hat Jörg Freyhof früh ein Gen für Tiere und Pflanzen in sich entdecktin Tarnzelten an Tümpeln gehockt, Krötenkonzerten gelauscht und versucht, das Blaukehlchen zu fotografieren. Und er hat sich für Naturschutz engagiert. "Dieser Linie bin ich treu geblieben, Wissenschaft muss für mich mit Engagement verbunden sein, um Sinn zu machen", sagt Freyhof. So fließt seine Forschung in Managementpläne für die Fischerei ein und ist Grundlage für die Ausgestaltung und Finanzierung von Schutzprojekten. Mit seinem Fischwissen berät er Politiker:innen und Nichtregierungsorganisationen und sitzt in Gremien, etwa zur Vorbereitung des Übereinkommens über die biologische Vielfalt. Am Biodiversity Policy Lab, einer Forschungseinheit für Biodiversitätspolitik, entstehen parallel dazu Denkimpulse für die Debatten rund um Artenvielfalt und das Verhältnis von Mensch und Natur. Eine wichtige Basis für den Biodiversitätsschutz leistet auch die Taxonomie, also die systematische Einordnung von Lebewesen. "Und für diese Einordnung braucht es die Typusexemplare, anhand derer bestimmte Arten zum ersten Mal beschrieben wurden – das sind die echten Schätze naturkundlicher Sammlungen."

In der Sammlung des Museums für Naturkunde Berlin liegen viele dieser Referenzarten – allein 5.600 Vögel und 1.700 Fische, darunter Sensationen wie der Rundkopf-Geigenrochen, der von Marcus Élieser Bloch vor mehr als 200 Jahren erstmals beschrieben wurde.

Die Rettung der genadelten Fliegen vor russischen Bomben 

In einem unsanierten Teil des Museumsgebäudes, in der Sammlung der "Dipteren", also der Fliegen und Mücken, hat Valery Korneyev einen temporären Arbeitsplatz eingerichtet, zwischen Dutzenden alten Schränken, in denen über Jahrhunderte gesammelte Insekten lagern. Auf seinem Schreibtisch am Fenster stapeln sich Kästen mit sorgfältig genadelten und mit chinesischer Tusche etikettierten Fliegen. Manche in provisorisch verklebten Pappschachteln, andere in Holzetuis oder Zigarrenkisten. Valery Korneyev ist Dipterologe, Fliegen- und Mückenforscher. Er stammt aus der Ukraine, wo er die Entomologische Abteilung und das Sammlungsmanagement am Schmalhausen Institut für Zoologie in Kyiv leitet, das zur Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine gehört. Die Fliegen hat er aus Kyiv nach Berlin gebracht, um sie vor den Bomben zu schützen. Im Februar, als der russische Überfall auf die Ukraine begann, sei er gerade dabei gewesen, die Fliegen der Familie Pyrgotidae einer Revision zu unterziehen, also naturkundliche Sammlungen nach Exemplaren zu durchforsten und die bestehende taxonomische Systematik zu überprüfen, was seit den ersten Beschreibungen niemand mehr getan hatte. Vieles in der ursprünglichen Systematik war mit den Jahren durcheinandergeraten, manche Arten waren doppelt oder dreifach beschrieben worden, andere nicht als eigene Art erkannt. "Es macht mir viel Freude, Ordnung ins Chaos zu bringen", sagt Korneyev, der in seiner Arbeit eine entscheidende Grundlage für den Naturschutz sieht und für die Rote Liste der Insekten in der Ukraine mitverantwortlich ist

"Was uns Menschen davon abhält, uns selbst zu vernichten, Kriege zu führen und die Biosphäre mit all ihrer Artenvielfalt zu ruinieren, ist die dünne Schicht der Kultur, die all jene leicht fertig zerstören können, die keine Empathie in sich tragen." (Valery Korneyev)

Valery Keynev  (c) Pablo Castagnola

Text: Mirco Lomoth
Fotos: Natalia Luzenko (Artikelbild), Pablo Castagnola (Rest)