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Leerstellen im Archiv: Zur Fotografie eines toten Bartfisches

  • Archivansicht einer Fotografie, die eine Person mit gefangenem Fisch zeigt, Deutsche Zentralafrika Expedition 1910–11, Nachlass Arnold Schultze-Rhonhof (1875–1948), Carola Radke MfN
  • Archivkarton mit einer losen Sammlung von Fotografien, Nachlass Arnold Schultze-Rhonhof (1875–1948), Carola Radke MfN
  • Archivansicht Fotografie einer unbekannten Person mit gefangenem Fisch, Deutsche Zentralafrika Expedition 1910–11, Nachlass Arnold Schultze-Rhonhof, Carola Radke MfN

Alona Dubova

Leblos in der Luft hängend wird der Körper eines großen Bartfisches von einer unbekannten Person in die Kamera gehalten. Der Fokus der Schwarzweißfotografie, die heute in der Historischen Bildsammlung des Museum für Naturkunde Berlin archiviert ist, liegt auf dem feucht-glänzenden und fleckigen Körper des Tieres. Im Gegensatz dazu präsentieren sich die weiteren Details unscharf. Die Person im Hintergrund und der Ort der Aufnahme sind nicht identifizierbar. Der Rahmen des Bildes hat Oberkörper, Gesicht und Umgebung ausgeschlossen. Weder der Bildinhalt noch die Beschriftungen geben unmittelbar Aufschluss über die Provenienz und den historischen Kontext der Aufnahme. Und auch ihre Rückseite ist – im Gegensatz zu den hunderten weiteren Fotografien, mit denen sie gemeinsam aufbewahrt ist – unbeschriftet. 

Die Fotografie befand sich einst in einem braunen Karton, welcher ursprünglich, wie ein Etikett an seiner Seite verriet, für Damenstiefel gedacht war. Das historische Gehäuse der losen Sammlung ist heute nicht mehr erhalten. Es beherbergte, nebst verschiedener Ausstellungsfotografien unterschiedlicher Jagdausstellungen, mehrere kleinere Schachteln und Umschläge mit fotografischen Abzügen unterschiedlicher Techniken und Formate. Erst nach einer Vorsortierung des Bestands durch die Historikerin Catarina Madruga im Jahr 2022, liegt das Konvolut nun in drei Teilbeständen vor, die in Archivkartons gelagert werden. 

Die Fotografie des toten Tiers reiht sich in eine schiere Masse von mehr als 500 Aufnahmen ein, die auf verschiedenen Reisen, wie der Yola-Tschadsee-Grenzexpedition 1903/1904 und der sogenannten "Strafexpedition" nach Kamerun 1905, aufgenommen wurden. Sie bilden koloniale Infrastrukturen von Expeditionsreisen, Flora und Fauna, aber auch die in den bereisten Gegenden lebenden Menschen, ihr Zuhause, ihren Alltag und den der kolonialen Reisenden ab. Diese Bildvielfalt und -vielheit steht emblematisch für eine visuelle Form der kolonialen Sammelwut, die durch imperiale, fotografische Infrastrukturen ermöglicht wurden. Mehr als nur ein dokumentierendes Werkzeug hatten Fotografien Anteil an der Translokation von Gütern, Kapital und Ideologien, regulierten und unterbrachen deren Wege.

Paradoxerweise ermöglicht eben diese, zunächst weitgehend anonyme Masse an fotografischen Aufnahmen nebst ihren Ordnungssystemen, den historischen Kontext der Bilder zu erschließen und ihre Inhalte zu bestimmen. Notizen und Markierungen auf Vorder- und Rückseiten geben erstens Aufschluss über die dargestellten Motive. Zweitens deuten sie auf eine publikationsvorbereitende Funktion der Abzüge hin. Vor allem die botanischen und entomologischen Beschriftungen der Bildrückseiten, aber auch Ortsnamen, lassen auf einen Zusammenhang der Sammlung mit der Deutschen Zentralafrika-Expedition (1910/11) schließen. Ein Blick in den dazugehörigen Expeditionsbericht von 1912 bestätigt diese Annahme. Somit konnte auch der Geograph und Entomologe Arnold Schultze-Rhonhof (1875–1948) als Urheber der Fotografien identifiziert werden. Schultze-Rhonhof war vom Expeditionsleiter Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg (1873–1 969) als Forschungsreisender für die Expedition rekrutiert worden.  

Ein weiteres zentrales Indiz für die Kontextualisierung des Bestands ist der schwarze Streifen auf der linken Bildseite der obigen Fotografie, welcher die invertierte Zahl "228" trägt. Folglich ist anzunehmen, dass es sich bei der Archivalie um den Abzug einer mit Ziffern beschrifteten Glasplatte handelt. Dies lässt auf eine historische Nutzung des Motivs im Rahmen eines Lichtbildvortragens schließen. Die Spur zum dazugehörigen Diapositiv hat sich jedoch verloren. Andererseits könnte die Ziffer auf eine geografische Reihenfolge hinweisen: Ein Abgleich mit den anderen Abzügen der Sammlung und dem Expeditionsbericht lässt die Vermutung zu, dass die Fotografie des Fisches auf der Route zwischen Assobam und Yokadouma aufgenommen wurde.

Koloniale Bildarchive sind trotz ihrer materiellen Fülle in vielfacher Hinsicht von Lücken durchzogen. Die Inkonsistenzen ihrer Anlage und Überlieferung weisen darauf hin, welchen Dingen, Personen oder Kontexten Bedeutung zu- bzw. abgesprochen wurde. Als intendierte Blindstellen lassen sich diese auch im Sinne von gezielten Auslassungen analysieren. So besitzen die Fotografien von Schultze-Rhonhof mehrschichtige Leerstellen: Während Tier- und Pflanzennamen in Beschriftungen und Expeditionsberichten möglichst genau bestimmt wurden, bleiben lokale Anwohnende oder Arbeitende unbenannt. Die unzähligen Träger*innen, Jäger*innen, Übersetzer*innen oder Führer*innen und ihre meist schlecht oder gar nicht entlohnte Arbeitskraft war für den Expeditionserfolg entscheidend, verbleibt in den Fotografien jedoch unerwähnt und ungewürdigt. 

Auch wenn über die fotografierte Person, die den Bartfisch ins Bild hält, keine Informationen überliefert sind, stellt die Aufnahme dennoch auch ein Zeugnis dafür dar, wie Kolonialreisende Menschen, Tiere und Natur für ihre Zwecke inszenierten und ins Bild setzten. Schließlich besitzt die Fotografie des toten Bartfisches im Gegensatz zu anderen Aufnahmen aus dem Bestand, nur wenige Spuren der Bearbeitung. So können diese nicht vorhandenen Spuren darauf hindeuten, dass diese Fotografie aus unbekannten Gründen für eine Publikation als nicht geeignet erachtet wurde. Fehlende Spuren der Bearbeitung, Nutzung und Archivierung lassen zwar zahlreiche Fragen offen. Eine Untersuchung genau jener Leerstellen hält jedoch auch das Potential für die Erforschung neuer historischer Zusammenhänge bereit.

Steckbrief

  • Titel: ohne Titel
  • Signatur: MfN, HBSB, coll.mfn-berlin.de_u_021ba6, unerschlossen
  • Provenienz: aufgenommen im Rahmen der Deutschen Zentralafrika Expedition 1910/1911; Fotografie unveröffentlicht; vermutlich Teil des Schultze-Rhonhof-Nachlasses am MfN; 2022 in der Bildsammlung des Archivs am Museum für Naturkunde Berlin aufgefunden und sortiert
  • Material: fotografischer Abzug
  • Urheber:in: Arnold Schultze-Rhonhof (1875–1948)
  • Zeit der Entstehung: 1910/1911
  • Ort der Entstehung: auf der Route von Assobam nach Yokadouma, Kamerun
  • Verschlagwortung*: Arnold Schultze-Rhonhof, Bartfisch, Kolonialfotografie, archival absences, Unsichtbarkeiten, Verlust im Archiv, Leerstellen, Provenienz, Spuren

Literatur

Jan Diebold: Hochadel und Kolonialismus im 20. Jahrhundert: Die imperiale Biographie des “Afrika-Herzogs” Adolf Friedrich zu Mecklenburg, Wien, Köln, Weimar 2019.

William Fysh: "Infrastructures of Light: Tropicapitalism and Germaine Krull’s Camera", in: Photography and Culture, Bd. 13, Heft 2 (2020): Capitalism and the Limits of Photography, S. 175–196.

Florian Hoffmann: Okkupation und Militärverwaltung in Kamerun: Etablierung und Institutionalisierung des kolonialen Gewaltmonopols, Teil II: Die kaiserliche Schutztruppe und ihr Offizierkorps, Göttingen 2007.

Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg (Hg.): Vom Kongo zum Niger und Nil: Berichte der deutschen Zentralafrika-Expedition 1910/1911, Bd. 2, Leipzig 1912.

Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg (Hg.): Wissenschaftliche Ergebnisse der zweiten Deutschen Zentral-Afrika-Expedition, 1910-1911, unter Führung Adolf Friedrichs, Bd. 2: Botanik, Leipzig 1922.

Mona Wischoff: "Projektionsbilder. Koloniale Lichtbildervorträge um 1900", in: Fotogeschichte, 43. Jg., Heft 169, 2023, S. 52–56.

Mona Wischoff: "Vom 'Panorama der Faktoreien' bis zur 'neuen schönen Landungsbrücke'. Eine Reihe kolonialer Architekturen und Infrastrukturen im Lichtbildervortrag", in: Deutsch-koloniale Baukulturen. Eine globale Architekturgeschichte in 100 visuellen Primärquellen, hg. von Michael Falser, Passau 2023, S. 242–245.

Elahe Haschemi Yekani: The Privilege of Crisis: Narratives of Masculinities in Colonial and Postcolonial Literature, Photography and Film, Frankfurt am Main, New York 2011.

Hanna Zeckau, Hanns Zischler, Arnold Schultze: Der Schmetterlingskoffer: Die tropischen Expeditionen von Arnold Schultze, Berlin 2010.

Quellen

Nachlass Arnold Schultze-Rhonhof Nr. 30, Tagebuch von Arnold Schultze-Rhonhof über Yola-Tschadsee-Grenzexpedition 1903-1904 und Reise nach Südamerika 1920–1929, MfN, HBSB, N016.

Nachlass Arnold Schultze-Rhonhof Nr. 31, Tagebuch von Arnold Schultze-Rhonhof über Reise nach Südamerika 1920–1928 und Kongo 1929, MfN, HBSB, N016.

Nachlass Arnold Schultze-Rhonhof: Gesamtakte, darin u. a. Sendungslisten von Sammlungsobjekten, MfN, ZM_S_III Mecklenburg

Bildunterschriften

  • Abb. 1: Archivansicht 1 der Fotografie o. T. [Ansicht einer lokalen Person mit gefangenem Fisch, Deutsche Zentralafrika Expedition 1910–11], unbekannter*r Fotograf*in, ca. 1910/11, Nachlass Arnold Schultze-Rhonhof, MfN, HBSB, unerschlossener Bestand, coll.mfn-b natzrerlin.de_u_021ba6, © Carola Radke, MfN.
  • Abb. 2: Archivkarton mit einer losen Sammlung von Fotografien, unbekannter*r Fotograf*in, ca. 1910/11, Nachlass Arnold Schultze-Rhonhof, MfN, HBSB, unerschlossener Bestand, coll.mfn-b natzrerlin.de_u_021ba6, © Carola Radke, MfN.
  • Abb. 3: Archivansicht 2 der Fotografie o. T. [Ansicht einer lokalen Person mit gefangenem Fisch, Deutsche Zentralafrika Expedition 1910–11], unbekannter*r Fotograf*in, ca. 1910/11, Nachlass Arnold Schultze-Rhonhof, MfN, HBSB, unerschlossener Bestand, coll.mfn-b natzrerlin.de_u_021ba6, © Carola Radke, MfN.