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Ein Schmetterlingskörper als Dokument

Ansicht einer Lepidochromie von Friedrich Sellow

Yvonne Reimers

Ein gefaltetes Blatt Papier, 18,3 x 22,7 cm groß und auf der Rückseite mit "Bibliothek Zoologisches Museum Berlin" gestempelt, offenbart das gespiegelte Bild eines Schmetterlings. Über dem Motiv der linken Seite ist der Hinweis "unten" handschriftlich mit Tinte vermerkt, auf der rechten Seite steht "Ageronia Amphinome L." geschrieben. Die beiden Bilder wirken puderig, die Schmetterlingsflügel sind mit feinen Farbpigmenten in blau, schwarz, grün und rot bedeckt, die sich auch über die Darstellungen hinaus auf dem Papier verteilen. Ein Einlegeblatt verhindert, dass sich die zwei Bilder berühren, wenn das Faltpapier geschlossen wird. Die Schmetterlingskörper sind nur in der Mitte pigmentiert, ihr oberer und unterer Rand ist jeweils mit einer feinen Bleistiftlinie umrissen. Auf der Rückseite des Papiers zeichnen sich leichte Durchdrucke der Schmetterlinge ab. 

Die Schmetterlingsbilder stammen aus dem Nachlass des Gärtners und Naturforschers Friedrich Sellow (1789–1831), der zwischen 1814 und 1831 im Auftrag Preußens Südamerika bereiste und zahlreiche naturkundliche Sammelexpeditionen begleitete. Ein Teil seines schriftlichen Nachlasses, den er zunächst seinem Freund Ignaz von Olfers (1793–1871), Generaldirektor der Königlichen Museen Berlin, vererbt hatte, gelangte 1882 gemeinsam mit einer Sammlung von Mineralien und Gesteinen an das Museum für Naturkunde und wurde 1968 aus der Mineralogischen Sammlung an die Historische Arbeitsstelle abgegeben.

Auf den ersten Blick glaubt man eine detailgetreue, kolorierte Zeichnung der Ober- und Unterseite eines Schmetterlings in den Händen zu halten. Tatsächlich handelt es sich um einen sogenannten Naturselbstdruck, oder auch eine Lepidochromie, bei welcher der Schmetterling wie ein Stempel auf das Papier gedrückt wurde: Dafür behandelte man das Blatt mit einer speziellen Fixierflüssigkeit, der Schmetterling wurde darauf gelegt und das gefaltete Papier fest zusammengepresst, sodass der "Schmetterlingsstaub" beim Öffnen am Papier kleben blieb. Das Präparat wurde in diesem Prozess zerstört und als Sammlungsobjekt wertlos. Es ist denkbar, aber (noch) nicht belegt, dass Friedrich Sellow dieses Verfahren beherrschte und die insgesamt fünf in seinem Nachlass überlieferten Lepidochromien während seiner Reisen in Südamerika selbst anfertigte. 

Organische Materialien sind keine Seltenheit in den Beständen der Historischen Arbeitsstelle. Immer wieder finden sich insbesondere eingeklebte Federn, Fischschuppen oder kleine Insekten unter den Bild- und Schriftdokumenten. Dies wirft eine Reihe von Fragen auf: Welche Rolle spielten sogenannte Naturselbstdrucke in wissenschaftlichen Forschungen des 19. Jahrhunderts? Welche Eigenschaften konnten sie besonders gut veranschaulichen, besser als zum Beispiel Zeichnungen oder Fotografien? Handelt es sich bei ihnen um Bilder, Dokumente oder naturkundliche Sammlungsobjekte? Wie und wo werden diese fragilen Abdrucke konservatorisch richtig aufbewahrt, unter welchen Schlagworten verzeichnet? Und schließlich: Ist ein Tier ein Dokument?

 

Steckbrief

  • Titel: Lepidochromie eines Schmetterlings
  • Signatur: ZM B VIII 14
  • Provenienz: Nachlass Friedrich Sellow (1789–1831), Mineralogische Sammlung ab 1882, Historische Arbeitsstelle des Museum für Naturkunde ab 1968
  • Material: Papier, Bleistift, Schmetterlingsschuppen, Tinte
  • Urheber: vermutlich Friedrich Sellow (1789–1831)
  • Datierung: undatiert, ca. 1814–1831
  • Ort der Entstehung: wahrscheinlich Brasilien
  • Verschlagwortung: Lepidochromie, Naturselbstdruck, Schmetterlinge, Sellow, Brasilien

 

Literatur

  • Suzanne Briet: Qu'est-ce que la documentation?, Paris 1951.
  • Roderick Cave: Impressions of Nature: A History of Nature Printing, London 2010.
  • Lorraine Daston und Peter Galison: Objektivität, Frankfurt a. M. 2007, insbes. S. 114 ff.
  • Carsten Eckert, Sabine Hackethal und Hanns Zischler: Die Erkundung Brasiliens. Friedrich Sellows unvollendete Reise, Berlin 2013.
  • Sabine Hackethal und Frank Tillack: "Im Auftrag Preußens. Friedrich Sellow in Brasilien (1814–1831)", in: Amphibien und Reptilien der Neotropis. Entdeckungen deutschsprachiger Forscher in Mittel- und Südamerika, hg. v. Axel Kwet und Manfred Niekisch, Rangsdorf 2016, S. 64–79.
  • Jean Orousset: "Un art oublié. La lépidochromie", in: L’Entomologiste, Bd. 64 (2008), H. 1, S. 47–58.
  • H. Poulin: La Lépidochromie. L'Art de décalquer et de fixer les couleurs des ailes du papillon, Paris 1899.
  • Simon Weber-Unger (Hg.): Naturselbstdrucke. Dem Originale identisch gleich, Wien 2014.

 

Bildunterschrift

  • Lepidochromie eines Schmetterlings, Bleistift, Schmetterlingsschuppen und Tinte auf Papier, evtl. Friedrich Sellow, o. D. (ca. 1814–1831), 18,3 x 22,7 cm, MfN, HBSB, ZM B VIII 14, © Hwa Ja Götz, MfN.