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Franziska Schuster: Die Schatzheberin

Franziska Schuster mit Bibliothekarin Vivien Bauer

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Journal für Natur (Ausgabe 5/2021).

Alte Expeditionstagebücher, handgeschriebene Etiketten, kunstvolle Kupferstiche, biologische Proben – die Sammlung des Museums für Naturkunde Berlin steckt voller Raritäten und verstecktem Wissen. Franziska Schuster hilft, die Schätze zu heben.

Der Fisch auf dem vergilbten Blatt hat eine flügelförmige Brustflosse und drei spitze Stacheln unter dem Maul. Trigla hirundo steht daneben in Serifenschrift, die Seeschwalbe. Rücken- und Bauchflossen sind in feinster Kupferstichkunst nachempfunden und sorgsam koloriert, sodass sie auch nach zwei Jahrhunderten noch gelblich-orangen schimmern. Mit Bleistift hat jemand notiert: "Knurrhahn, 60 Zentimeter".

Es ist eine Zeichnung aus der "Allgemeinen Naturgeschichte der Fische" des Arztes und Naturforschers Marcus Elieser Bloch vom Ende des 18. Jahrhunderts – eine der vielen Kostbarkeiten der Zoologischen Bibliothek des Museums für Naturkunde Berlin. "In unseren Raritätenschränken liegen viele solcher Originalwerke, die für die Wissenschaft äußerst wertvoll sind", sagt Franziska Schuster und blättert weiter zu einem kugelrunden, goldfarbenen Fisch mit langen Stacheln an der Rückflosse, dem Heringskönig, Zeus faber. "Noch so eine Schönheit." 

Abbildung des Trigla hirundo

Schuster ist Erschließungsmanagerin am Museum für Naturkunde Berlin und Koleiterin des Projekts "Transformation", das die Aufgabe hat, die Sammlung des Museums für die Zukunft neu aufzustellen, einen konkreten Plan zu entwerfen, wie sie zeitgemäß und sicher auf bewahrt und für jedermann digital zugänglich werden kann. Schusters Spezialgebiet ist "Flachware", wie es in der Museumssprache heißt, also mehr oder weniger "zweidimensionale" Objekte: historische Sammlungskataloge, Inventarbücher, Expeditionsberichte, Tagebücher, Briefe, Glasnegative, aber auch Tierstimmenaufnahmen. "Wir haben einen Wunschzustand für die Sammlung formuliert und schaffen jetzt die notwendige Infrastruktur", sagt Schuster in einer Mischung aus Sachlichkeit und Begeisterung, die es braucht, um große Herausforderungen wie diese anzugehen. "Für jede Objektart suchen wir nach der effizientesten Methode." Für die Schönheiten in Blochs Naturgeschichte der Fische heißt das, dass sie mit einem neuen High-End-Scanner digitalisiert werden, ohne das die brüchigen Seiten dabei Schaden nehmen.

Man könnte Franziska Schuster als eine Schatzheberin bezeichnen, wobei sie die Schätze des Museums für Naturkunde Berlin nicht selbst hebt, sondern dafür sorgt, dass andere sich möglichst bequem durch die Tiefen der Sammlung wühlen können. "Man muss nie lange suchen, um etwas Tolles ans Licht zu holen", sagt sie. Sie selbst begeistert sich vor allem für die unscheinbaren Dinge, ein hübsches Siegel auf einem Brief etwa, oder ein handschriftlicher Vermerk am Seitenrand, der aus einer anderen Zeit zu ihr spricht. "Eine Forscherin oder ein Forscher sucht sicher nach ganz anderen Schätzen."

Zum Beispiel nach den Gewebeschnitten von Makaken-Embryos, die in einem alten Auszug lagern, rot eingefärbte Proben auf Glasplatten, vor gut 100 Jahren zum Mikroskopieren angefertigt. 300.000 solcher mikroskopischen Präparate zählt allein die Embryologische Sammlung, 600.000 gibt es im Museum insgesamt, organische und anorganische, aufgebracht auf unterschiedlichste Objektträger: kleine, große, dicke, dünne, von Hand zugesägte, aus Glas, Pappe, Holz, Aluminium, Kunststoff – ein nahezu unerschöpflicher Fundus für wissenschaftliche Tauchgänge. Schuster und ihr Team entwickeln teilautomatisierte Methoden, um auch diesen Schatz zu digitalisieren. "Es sollen Bilder aller Präparate entstehen, die so präzise sind, als würde man sie durch ein Mikroskop betrachten", sagt sie. So können Wissenschaftler:innen ihre Fragen beantworten, ohne die historischen Objektträger selbst unter ein Mikroskop legen zu müssen. 

Highend-Scanner für schonende Digitalisierung alter Werke

Schuster kam 2020 ans Museum für Naturkunde Berlin. Als Medienwissenschaftlerin hatte sie sich vorher mit der "Flachware" Film befasst, alte DDR-Trickfilme für die DEFA-Stiftung digitalisiert, um sie möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Sie hat sich in die technischen Kniffe der Scantechnik, Filmrestaurierung und Farbkorrektur gekniet, um das Digitalisat möglichst authentisch wirken zu lassen. "Und doch hat man am Ende immer nur eine Repräsentation des Originals auf einem anderen Medium", sagt sie. "Gerade solche Fragen machen das Thema Digitalisierung so spannend für mich." Am Museum für Naturkunde Berlin kam für sie vieles zusammen: Die Möglichkeit, eines der umfangreichsten Digitalisierungsprojekte deutscher Museen mitzugestalten, und das in einem Umfeld, das diesen Prozess als Kern seiner Zukunftsfähigkeit betrachtet. "Für mich war es wirklich toll, in eine Institution zu kommen, in der meine Ideen auf fruchtbaren Boden fallen", sagt Schuster. Hier ist sie Technikerin, Beraterin und Fädenzieherin zugleich. 

Zu ihrer "Flachware" zählen auch die Etiketten, die an jeder einzelnen Biene und jedem Dinosaurierknochen in der Sammlung hängen. Oft sind es nur winzige Zettelchen, auf denen handschriftlich Fundorte, Artnamen oder Jahreszahlen notiert sind. Viele Objekte haben mit der Zeit mehr als ein Etikett erhalten – ihre Zahl wuchs mit dem Stand der Forschung, Artennamen wurden umgedeutet, Zusatzinformationen festgehalten. 

Schuster zeigt ein Fossil, es sind versteinerte Schalen von Muscheln, ein schönes Stück ohne Frage, aber worum handelt es sich? "Zu diesem Fossil sind neun Etiketten überliefert, die alle wichtige Informationen enthalten", sagt Schuster. Etwa, dass es 175 bis 200 Millionen Jahre alte Muscheln sind, die Alexander von Humboldt auf seiner zweiten Amerika-Expedition in Peru gesammelt hat, dass sie 1839 als Pectus alatus beschrieben und später der Gattung Weyla zugeordnet wurden. 

Etikett mit Humboldt Originalhandschrift

Auch das Etikett mit Humboldts Originalhandschrift ist erhalten. "Ohne solche Notizen müsste man jedes Objekt neu bestimmen, und vieles könnte man nie wieder in Erfahrung bringen", sagt Schuster. "Deshalb sind unsere Etiketten so wahnsinnig wertvoll." Bisher wurden sie aufwendig abgetippt, um sie in Datenbanken durchsuchbar zu machen – eine Sisyphosaufgabe. Jetzt wollen Schuster und ihr Team Algorithmen trainieren, um Millionen von Etiketten automatisiert zu erschließen. Dafür arbeiten sie mit Firmen zusammen, die Künstliche Intelligenz verwenden, etwa um alte Handschriften zu entziffern. "Diese Techniken können wir auch für andere Dokumente nutzen, etwa Inventarbücher", sagt Schuster. Viele der alten Papiere in den Bibliotheken und im Archiv des Museums für Naturkunde Berlin müssen jedoch erst einmal konservatorisch behandelt werden, damit sie beim Scannen nicht zerfallen. Auch das ist Teil von Schusters Aufgabe, fragile Originale für die Nachwelt zu retten.

Zu den zehn Etiketten an Weyla alata wird bald ein weiteres Etikett hinzukommen, mit einer Identifikationsnummer und einem QR-Code. „Wer diesen Code scannt, wird alle Informationen zum Objekt mit einem Klick abrufen können“, sagt Schuster. Etwa den Fundort auf einer Karte nachvollziehen oder weitere Objekte aufspüren können, die mit dem Fossil in Verbindung stehen – bis hin zu einem Briefwechsel unter Forschenden oder einem Expeditionsbericht, in dem es möglicherweise einmal genannt wurde. „Durch die digitale Erschließung entstehen Querverbindungen, die einen Mehrwert für die Forschung und andere Nutzergruppen schaffen“, sagt Schuster.

Für sie bedeute Sammlungserschließung vor allem eine große Verantwortung. "In vielen Fällen handelt es sich ja um Lebewesen, die einmal für die Forschung gestorben sind", sagt sie. "Daher sehe ich es als meine Pflicht, sie, so gut es irgendwie geht, für nachfolgende Generationen zu erhalten und sie der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, statt sie in Schränken wegzuschließen."

Text: Mirco Lomoth
Fotos: Pablo Castagnola