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Yara Haridy: Die Zeitreisende

Yara Haridy

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Journal für Natur (Ausgabe 2/2020).

Sie dringt mit Licht und Röntgenstrahlung in Jahrmillionen alte Knochen ein, um nach Krankheiten zu fahnden: Wie Yara Haridy, Doktorandin am Museum für Naturkunde Berlin, das Wissen um die Evolution voranbringt.

Irgendetwas stimmte nicht mit diesen Knöchelchen, da war Yara Haridy sich sicher. Die Schwanzwirbel des echsenartigen Tieres, das vor 289 Millionen Jahren in der Permzeit lebte, waren auf ungewöhnliche Weise miteinander verwachsen, zu eng und ebenmäßig für eine verheilte Verletzung. Haridy fühlte über die Nahtstelle. Hatte eine Krankheit zur Fusion der beiden Wirbel geführt? Und ließ sich diese womöglich im Knocheninnern nachweisen? Sie beschloss, ihrer Neugier nachzugehen – und fand Hinweise auf die ältesten Viren der Welt.

Yara Haridy ist Paläontologin und Evolutionsbiologin. Man könnte sie auch eine Zeitreisende nennen. Am Museum für Naturkunde Berlin spürt die 26-Jährige für ihre Doktorarbeit den Ursprüngen und Vorstufen des menschlichen Skeletts nach. Mit Licht und Röntgenstrahlen dringt sie in fossile Knochen ausgestorbener Tiere ein und sucht nach Hinweisen auf Heilungsprozesse und Krankheiten, die vor Jahrmillionen in ihnen abgelaufen sind. Paläopathologie nennt sich dieses Spezialfeld: die Erforschung urzeitlicher Erkrankungen. "Es ist unglaublich, wie viele Details wir nach so langer Zeit noch herauslesen können, wie sich Blutgefäße verändert haben zum Beispiel, wie lange eine gebrochene Rippe zum Heilen brauchte oder ob ein Tier vor 200 Millionen Jahren an einer Infektion erkrankt ist", sagt sie. "In gut erhaltenen Fossilien ist sogar die Form einzelner Knochenzellen erkennbar."

Die Suche nach den spannendsten Knochen führt sie weit zurück auf den verästelten Pfaden der Evolution, bis zu den kieferlosen Fischen, die vor 480 Millionen Jahren im Kambrium lebten. Sie waren unsere frühesten Vorfahren, die bereits Knochen hatten. "Ich möchte den Leuten erklären können: Dein Armknochen heilt, wie er heilt, weil sich diese Fische vor Jahrmillionen auf eine bestimmte Weise entwickelt haben", sagt sie. "Wenn wir unsere Vorfahren besser kennen, kann uns das helfen zu verstehen, was unsere Gene heute bewirken."

Yara Haridy

Die Entdeckung der Vergangenheit

Wer Yara Haridy über kieferlose Fische, verwachsene Knochen und andere Geheimnisse der Evolution sprechen hört, spürt viel von der Begeisterung, die sie antreibt. "Ich wollte immer verstehen, wie die Dinge in der Natur funktionieren", sagt sie. Schon als junges Mädchen in Marokko zog sie hinaus in die Natur, entdeckte, dass der Boden voller Leben war, sammelte Schädel, Vogelknochen, Käfer, Schnecken – und nahm sie mit nach Hause, um sie zu erforschen. "Keine meiner Freundinnen durfte so etwas, aber meine Mutter hat es mir erlaubt." Bald darauf zog sie mit ihrer Familie nach Toronto. Die zwölfjährige Yara war fasziniert von der satten Natur des kanadischen Ostens, den grünen Wäldern, in denen Rehe umhersprangen. Sie setzte ihre Expeditionen fort, doch bald darauf versiegte ihre Neugier. "Auf der Highschool habe ich mich nur noch um meine Zukunft gesorgt", erinnert sie sich. Sie beschloss, Medizin zu studieren, um die Familie stolz zu machen, büffelte Anatomie, Genetik, Physiologie, schloss ihr Grundstudium ab und begann ein Praktikum in einem Labor, das sich der Anatomie urzeitlicher Wirbeltiere widmete.

"Das war ein absoluter Augenöffner für mich", erzählt Haridy. Schon während des Studiums der Anatomie hatte sie sich ständig gefragt, warum der menschliche Körper so beschaffen ist, wie er es ist. "Plötzlich wurde mir klar, dass Fossilien helfen können, solche Fragen zu beantworten. Es hat sich mir eine ganz neue Dimension eröffnet: die unserer eigenen Vergangenheit." Sie lernte, dass menschliche Zähne sich aus Fischschuppen entwickelt haben – und konnte das kaum glauben. Doch bald sah sie sogar die Vorformen der menschlichen Gliedmaßen aus Fischflossen hervorwachsen. Von da an ließ die Paläontologie sie nicht mehr los. Für ihre Masterarbeit reiste sie weit zurück, bis zu den Reptilien der Permzeit, um zu verstehen, wie die Zähne sich entwickelt haben.

Alte Flure und eine neue Evolutionsgeschichte

Ihre nächste große Reise führte sie von Toronto nach Berlin, zum Museum für Naturkunde – und zu den kieferlosen Fischen des Kambriums, die hier aufbewahrt werden. Das ehrwürdige Museum zog sie sofort in seinen Bann. Sie streifte durch alte Flure, Sammlungs- und Bibliotheksräume, sah das Skelett des Archaeopteryx lithographica, den perfekt erhaltenen Quastenflosser und natürlich Tristan Otto, den Tyrannosaurus rex, an dem sie besonders seine Rippenbrüche und Veränderungen an seinem gewaltigen Kiefer interessierten, die wohl von einer Infektion herrührten. Auch heute noch, nach zwei Jahren am Museum, unternimmt sie diese Erkundungstouren regelmäßig. "Es fühlt sich an, als atme das Gebäude, hier wurden so viele Arten zum ersten Mal beschrieben und man spürt die Leidenschaft der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Vergangenheit – das inspiriert."

Doch vor allem hat sie die aktuelle Forschung des Museums nach Berlin gebracht. Ihre Arbeitsgruppe vergleicht Fossilien mit modernen Tieren, um so eine umfassendere Evolutionsgeschichte erzählen zu können, eine weltweit seltene Verbindung. Haridy möchte ihre Doktorarbeit zu Fischfossilien in Zukunft auf gegenwärtige Haie und Lachse ausweiten. "Die bilden ihre Knochen ganz anders als wir, ohne Zellen", sagt sie. "Wenn wir ihr System besser verstehen, können wir auch Rückschlüsse auf unsere eigenen Knochen ziehen." In ihrer Freizeit umgibt sich Yara Haridy am liebsten mit lebender Natur, im Botanischen Garten etwa, den sie immer wieder besucht, aber auch in ihrer Wohnung in Tempelhof. "Ich sammle tropische Pflanzen, mein Apartment sieht aus wie ein Dschungel", sagt sie. Auch ein paar Frösche quaken in ihrem Terrarium.

Ein Gespür für seltsame Knochen

Auf ihrem Flug von Toronto nach Berlin hatte Haridy auch die auffällig verwachsenen Wirbelknochen des echsenartigen Tieres im Gepäck, die sie während ihres Studiums in Kanada entdeckt hatte. Am Museum für Naturkunde Berlin legte sie die nur sechs Zentimeter großen Knöchelchen in einen Mikrocomputertomographen. Die Röntgenstrahlen offenbarten, dass das Knocheninnere auf seltsame Weise zerstört war. "Er war an manchen Stellen übermäßig gewachsen, an anderen krankhaft abgebaut", sagt Haridy. Mithilfe eines Radiologen von der Charité – Universitätsmedizin verglich sie die Symptome mit modernen Krankheitsbildern – und wurde fündig. "Alles deutete darauf hin, dass das Tier an einer Knochenstoffwechselkrankheit litt, die der Paget-Krankheit moderner Menschen ähnelte", sagt Haridy. Bei der Paget-Krankheit ist die Kommunikation zwischen den Knochen auf- und abbauender Zellen gestört. Schuld daran ist neben genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen vermutlich ein Virus. Haridy hatte den frühesten Nachweis der Paget-Krankheit erbracht – und nebenher Hinweise auf den ältesten Virus der Erdgeschichte gefunden.

In Berlin zog ein anderer seltsamer Knochen Yara Haridys Neugier auf sich: ein Oberschenkelknochen der ältesten bekannten Schildkröte, die in der Triaszeit vor 240 Millionen Jahren lebte. "Er hatte eine auffällige Beule; als ich ihn zum ersten Mal sah, war ich so begeistert, dass mein Doktorvater ihn mir für Untersuchungen überließ", sagt Haridy. Wieder hatte sie ein gutes Gespür. Ein Micro-CT-Scan ergab Symptome, die sich als bösartiger Knochenkrebs herausstellten – der zweitälteste, der bisher an Fossilien nachgewiesen wurde. Für Haridy steckt in diesen Funden auch eine tröstende Botschaft. Die Paläopathologie zeige, dass Viren, Krebs und andere Krankheiten sich immer schon parallel mit dem Leben entwickelt und uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. "Die Menschheit und ihre Vorfahren haben im Laufe der Evolution schon viele furchtbare Krankheiten überstanden – das sollte uns Hoffnung geben."

Text: Mirco Lomoth
Fotos: Pablo Castagnola