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Begegnung mit der anderen Art

Urbane Ursuppe

Wir wissen nicht, mit wem wir diesen Planeten teilen. Um die 90 Prozent aller Arten auf der Erde sind unbekannt. Das Museum für Naturkunde Berlin setzt alles daran, die Namenlosen zu entdecken, bevor sie aussterben – in Berlin genauso wie im Regenwald von Vietnam.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Journal für Natur (Ausgabe 7/2023).

Auf den ersten Blick sah die Höhle im Cuc Phuong Nationalpark im Norden Vietnams nicht gerade spektakulär aus. Hinter einer vom Regenwald überwücherten Felsspalte befand sich ein schmaler Schlund, an dessen Grund Wasser grünlich schimmerte, vermutlich der Ausläufer eines kilometerweit verzweigten wasserführenden Höhlensystems im Karstgestein. Das Forscher:innenteam zwängte sich durch die schmale Öffnung und kletterte hinab, um Proben zu entnehmen. Als sie den Kescher wieder aus dem Wasser zogen, sahen sie eine kleine, fast durchsichtige Garnele mit farblosen Augen in den Maschen hängen.

"Mir war gleich klar, das muss etwas Besonderes sein, was sich an das Höhlenleben in Dunkelheit angepasst hat", sagt der Biologe Thomas von Rintelen, ein Experte für Garnelen und andere Süßwasserlebewesen, der am Museum für Naturkunde Berlin die Sammlung der Mollusken leitet, also der Weichtiere wie Schnecken, Muscheln und Tintenfische.

"Das Tier war blind, das sah man sofort, so etwas kannte man bis dahin nur aus China." Hatten sie eine neue Art gefunden? An diesem Vormittag im Innern der Karsthöhle legten vietnamesische Biolog:innen das zarte Krebstier in ein Glas mit hochprozentigem Alkohol, um es später im Labor näher untersuchen zu können. Im Camp präsentierten sie den Fund stolz ihren Kolleg:innen, die an anderen Orten des Cuc Phuong Nationalparks unterwegs gewesen waren. Jedes der elf Teams breitete aus, was es entdeckt hatte, reichte Gläser mit Proben herum und erklärte den anderen, was das Besondere an den Funden war. "Catch of the Day" nannten sie diese allabendliche Schau:

Es waren Schmetterlinge dabei, Schnecken, Ameisen, Fliegen und Pflanzen. Auch einzelne Fische. "Wir haben jeden Tag mehrere Arten gefunden, von denen wir annahmen, dass sie Neuentdeckungen sind", sagt Thomas von Rintelen, der gemeinsam mit Christoph Häuser vom Museum für Naturkunde Berlin die zweiwöchige Feldforschung in Vietnam geleitet hat.

Die Expedition war Teil des Ausbildungsprojekts VIETBIO, das vietnamesischen Biolog:innen neuestes Wissen und modernste Technik vermittelt, um die Erfassung der Artenvielfalt in ihrem Land schneller erfassen und besser schützen zu können. Finanziert wurde das Projekt bis Ende 2022 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, wissenschaftlich geleitet vom Museum für Naturkunde Berlin in Zusammenarbeit mit dem Botanischen Garten Dahlem. Biodiversitätserfassung ist in Vietnam eine besonders lohnende Aufgabe, denn das Land zählt zu den 20 Ländern mit der höchsten Artenvielfalt weltweit. Doch nur etwas mehr als 62.000 Arten wurden hier bislang dokumentiert.

Im vergleichsweise weniger vielfältigen Deutschland sind es um die 71.500. "Wie in vielen anderen tropischen Ländern ist in Vietnam über die Artenvielfalt sehr wenig bekannt, obwohl sie gerade dort am höchsten ist", sagt von Rintelen. Im Cuc Phuong Nationalpark, quasi einem Hotspot innerhalb des Hotspots, wo auch seltene Schönheiten wie der Kragenbär oder der Nebelparder, eine leopardenähnliche Großkatze, leben, wurden bislang sogar nur gut 20.000 Arten dokumentiert. "Ich würde schätzen, das sind nicht einmal zehn Prozent von dem, was dort wirklich lebt, sagt von Rintelen. 

Garnele Caridina tachlam

Robotik, Künstliche Intelligenz und DNA-Analysen gegen das Unwissen

Eine der grundlegenden Bestrebungen der Biologie war es immer schon herauszufinden, wer den Planeten Erde bewohnt. Seit 250 Jahren ziehen Naturkundler:innen aus, um neue Arten zu finden, an Museen zu bringen und zu beschreiben. Doch Schätzungen besagen, dass bislang nur zehn, vielleicht 20 Prozent aller auf der Erde vorkommenden Arten beschrieben wurden: rund 1,5 Millionen. Vor allem bei den kleinen Gliederfüßern, zu denen etwa Insekten und Krebstiere zählen, und Mikroorganismen klaffen große Wissenslücken. Ausreichende ökologische Daten zur Verbreitung oder zum Bestand liegen zu gerade mal 80.000 Arten vor.

Das erschwert die Einschätzung, welche Tierarten gefährdet sind – und demnach geschützt werden sollten. Wir Menschen halten uns für schlau. Doch im Grunde ist Homo sapiens ein Unwissender, der nicht einmal versteht, mit wem er seine Heimat teilt. Um das Gleichgewicht des Lebens auf diesem Planeten langfristig zu erhalten, braucht es ein neues Zeitalter der Entdeckung. "Im Moment zerstört der Mensch die Artenvielfalt schneller, als er sie begreift", sagt von Rintelen.

Weltweit werden derzeit um die 20.000 Arten pro Jahr entdeckt. "Wir müssten aber mehrere hunderttausend beschreiben, um nicht weniger zu entdecken als derzeit aussterben." Gemeinsam mit dem Biologen Rudolf Meier leitet Thomas von Rintelen am Museum für Naturkunde Berlin seit zwei Jahren das 2018 gegründete Zentrum für Integrative Biodiversitätsentdeckung, deren 40 Wissenschaftler:innen sich dem Ziel widmen, mit Wissenschaft und Technologie gegen die Ignoranz des Homo sapiens anzugehen. Am Zentrum entstehen neue Methoden, die durch eine Kombination von genetischen Analysen, Robotik und Künstlicher Intelligenz die weltweite Inventarisierung der Arten enorm beschleunigen sollen – und auch die vor der Haustür.

Zugleich beginnt ein Prozess der Selbst-Inventarisierung. Die Millionen von Proben, die in der teils jahrhundertealten Sammlung des Museums für Naturkunde Berlin lagern, sollen nach und nach digital erfasst und die in ihnen schlummernde "ancient DNA" durch genomische Sequenzierung erforscht und global verfügbar gemacht werden. Denn für die Bestimmung und Entdeckung neuer Arten ist es wichtig zu wissen, was bereits vorliegt. Das ist einer der Gründe, warum sich im März 2023 unter der Federführung des Museums für Naturkunde Berlin 73 Naturkundemuseen und Herbarien in aller Welt zu der Initiative "ONE World – ONE Collection" zusammengeschlossen haben.

Die schier unglaubliche Anzahl von 1,1 Milliarden Objekten in ihren vereinten Sammlungen soll erstmals über einen zentralen globalen Katalog für jede und jeden zugänglich gemacht werden. So wird eine breite naturkundliche Wissensbasis entstehen, um besser auf die Krisen unserer Zeit reagieren zu können. Die Forscher:innen des Zentrums für Integrative Biodiversitätsentdeckung arbeiten bereits fieberhaft daran, so viel Wissen wie möglich über die Verbreitung und Gefährdung einzelner Arten zu erarbeiten. Denn nur, was man kennt, kann man auch schützen, indem man sinnvolle Grenzen einer nachhaltigen Nutzung der Natur bestimmt. "Im Moment funktionieren die Ökosysteme noch und sind erstaunlich robust, auch wenn lokal viele Arten aussterben, aber darauf können wir uns nicht länger verlassen", sagt von Rintelen. "Irgendwann kann es eine unbekannte Art zu viel sein, die ausstirbt, und als Menschen sind wir am oberen Ende der Nahrungskette davon abhängig, dass alles andere funktioniert."

Thomas von Rintelen

Nicht einmal in Berlin wissen wir genau, was um uns herum lebt

Rudolf Meier stellt ein Probenglas vor sich auf den Tisch. Unzählige kleine Insekten schwimmen darin in einer Alkohollösung umher. Sie stammen aus einer "Malaise-Falle", die nicht etwa im Regenwald in Vietnam aufgestellt wurde, sondern im Hinterhof des Museums für Naturkunde Berlin. Zehn solcher Zeltfallen stehen über die ganze Stadt verteilt, in Kreuzberg, Mitte, Köpenick, um eine Art Zensus der Berliner Insektenarten zu ermöglichen. "Wahrscheinlich befinden sich um die 500 Arten in diesem Glas, darunter möglicherweise einige unbeschriebene, die kleiner sind als fünf Millimeter“, sagt Meier. "Das ist die Größenordnung, von der wir am wenigsten wissen, weil kaum jemand an ihnen forscht und sich für sie interessiert – ein bisschen nach dem Prinzip‚ aus den Augen aus dem Sinn."

Meier, der ein Experte für Insekten ist und seine Doktorarbeit über Fliegen verfasst hat, ist 2021 von Singapur ans Zentrum für Integrative Biodiversitätsentdeckung des Museums für Naturkunde Berlin gekommen, um von hier aus die Erfassung der Artenvielfalt zu revolutionieren. Er will endlich all die kleinen wirbellosen Geschöpfe in den Blick nehmen, die zu wenig beachtet werden, obwohl sie einen Großteil der Biomasse und Artenvielfalt der Tierwelt auf der Erde ausmachen.

Vor allem Insekten, und seien sie noch so klein, übernehmen unersetzliche Funktionen in den Ökosystemen. Aber auch ohne Regenwürmer und Mikroorganismen würde es keine Böden geben, die Pflanzen nähren können. In Deutschland hat dazu die "Krefelder Studie" von 2017 erschreckende Erkenntnisse geliefert: Zwischen 1989 und 2016 war die Biomasse der Fluginsekten um 76 Prozent zurückgegangen. "Das ist ein bisschen so, als würden wir in einem Jumbojet fliegen, von dem wir ständig Teile abmontieren und aus dem Fenster werfen, ohne zu wissen, welche Funktion diese haben und wann das Flugzeug abstürzt", sagt Meier.

Laborarbeit

Eine ausgeklügelte Methode, um Artenvielfalt schnell zu erfassen – und zu schützen

Um dem Absturz zuvorzukommen, entwickelt Meier am Museum für Naturkunde Berlin und in Kooperation mit Professor Christian Pylatiuk vom Karlsruher Institut für Technologie eine industrialisierte Methode zur Erfassung von Insektenvielfalt. In die DiversityScanner genannte Maschine kann man vorne bunt gemischte Proben von Insekten in einer Petrischale hineingeben, die dann fotografiert werden und hinten einzeln sortiert herauskommen. In der Zukunft wird der Diversity Scanner diese Tiere auch bestimmen können, die dafür notwendigen Algorithmen werden derzeit noch trainiert. Ein Roboter legt sie anschließend in eine der 96 Vertiefungen einer Mikroplatte, um sie für die genetische Analyse vorzubereiten. Am Ende, nachdem ihnen genetisches Material zur Bestimmung entnommen wurde, landen sie in High-Tech-Schränken, die um die 200.000 Proben fassen.

In Zukunft könnten mehrere DiversityScanner jeden Tag zehntausende Tiere verarbeiten. Zunächst nur kleine Insekten, später auch größere Tiere. Meiers Team hat testweise mehr als 6.000 Insekten aus Berliner Hinterhöfen und Gemeinschaftsgärten durch den Scanner laufen lassen und dabei rund 1.100 verschiedene Arten gefunden. "Unser Ziel ist, dass die Künstliche Intelligenz irgendwann so gut trainiert ist, dass die genetische Analyse wegfällt und Arten nur über die Bildanalyse bestimmt werden können", sagt Meier. Das wäre schneller und günstiger.

Bei Vögeln, Pflanzen oder Schmetterlingen ist diese Form der bildbasierten Arterkennung bereits möglich. Im Moment schaffen es die Algorithmen nur, sie bis zur Familie oder Gattung zu bestimmen. "Artenbestimmung per Bildanalyse würde dann Biomonitoring in Echtzeit ermöglichen – alles, was gefangen wird, könnte direkt an Ort und Stelle ausgewertet werden", hofft Meier. Es geht also längst nicht nur darum, neue Arten zu entdecken. Mit den neuen Techniken ließe sich auch ein kontinuierlicher – und rechtzeitiger – Überblick darüber gewinnen, wie viele Arten in einer Gegend vertreten sind, wie häufig sie vorkommen und ob Populationen ab- oder zunehmen. Vor allem aber könnten Arten geschützt werden, die kurz vor dem Aussterben stehen, ohne dass man dies bisher wusste.

Die revolutionäre Technik soll von Berlin aus in alle Welt gehen, um in Ländern mit hoher, aber bedrohter Biodiversität die Entdeckung und das Monitoring zu beschleunigen, beispielsweise in Brasilien, Vietnam oder Indonesien. Der Bauplan für den DiversityScanner ist jetzt schon frei verfügbar. Eine einfachere und manuelle Variante aus Meiers Labor, das Entomoskop, lässt sich sogar mit einem 3D-Drucker selbst herstellen; nur die Linsen muss man dazu kaufen.

"Das ist ein Gerät, das in Ländern des globalen Südens ohne hohe Kosten sofort zur Artenbestimmung einsetzbar ist", sagt Meier. Mobile Sequenziergeräte, die nicht viel größer sind als USB-Sticks, ermöglichen günstige genetische Analysen für etwa zehn Cent pro Tier. Jetzt bräuchte es "nur" noch den politischen Willen, um ein neues Zeitalter der Entdeckung auszurufen. "Es ist interessant, dass wir bereit sind, Geld für eine Autobahnbrücke auszugeben, aber nicht für die einmalige Erfassung der Biodiversität in Deutschland, die mit neuen Techniken genauso viel kosten würde", sagt Meier. "Dabei wäre das eine einmalige Investition, die man dauerhaft nutzen könnte. Wir haben in Deutschland 2.000 Wetterstationen, genaue Landkarten, und jeder kleine Bach ist vermessen, aber unsere Biodiversität kennen wir nicht."

Digitale Biodiversitätsdaten: Vom Regenwald bis zum Genlabor

Auch das Projekt VIETBIO wurde gestartet, um die Biodiversitätsentdeckung zu beschleunigen, bevor es zu spät ist. Tausende bislang vermutlich unbekannte Arten kamen allein während der zwei Wochen im Cuc Phuong Nationalpark zusammen. Zu jedem Fund notierten die Forscher:innen gleich vor Ort alle verfügbaren Daten in einem digitalen Feldtagebuch und verknüpften sie mit einem QR-Code mit dem jeweiligen Objekt. So hatten sie später im Labor, bei der genomischen Sequenzierung, sowie für die Publikation der neuen Arten eine verlässliche Grundlage. Außerdem können auf diese Weise wertvolle Biodiversitätsdaten, etwa zu äußeren Merkmalen, geografischen Angaben und genetischen Analysen, schnell und gebündelt in die globalen Datenbanken eingespeist werden aller Welt zur Verfügung, die sie mit eigenen Funden vergleichen können.

"Nur mit einem solchen konsequenten digitalem Datenmanagement können wir die Biodiversitätsentdeckung so sehr beschleunigen, wie es notwendig ist", sagt von Rintelen. Eine vom Museum für Naturkunde entwickelte Smartphone-App, MyFieldbook genannt, soll die Erfassung von Probendaten per QR-Code so einfach wie möglich gestalten. Sie wird 2023 veröffentlicht.

Collage FuerNatur

Die Zeit drängt, in Vietnam wie auch anderswo

Jetzt, wo das Projekt mit Vietnam abgeschlossen ist, so die Hoffnung, wird die Biodiversitätsentdeckung in Vietnam wesentlich schneller voranschreiten als bisher. Die Zeit drängt, wie auch anderswo. Denn vor allem Abholzung, landwirtschaftliche Übernutzung, Jagd, Klimawandel und Waldbrände setzen den wertvollen Ökosystemen des Landes zunehmend zu.

"Leider ist das gesellschaftliche Bewusstsein für den Wert der Ökosystemleistungen und der biologischen Vielfalt in Vietnam noch gering", sagt der Biologe Do Van Tu vom Institute of Ecology and Biological Resources in Hanoi, der gemeinsam mit Thomas von Rintelen die neue Süßwassergarnelenart gefunden hat. "Durch VIETBIO konnten wir schon jetzt eine große Menge an Daten gewinnen, die für die Erforschung und den Erhalt der biologischen Vielfalt wichtig sein werden, diese Arbeit wollen wir nun fortsetzen."

Die vier beteiligten Forschungsinstitutionen in Vietnam haben aus dem Budget des Bundesministeriums zudem eine Technikausstattung erhalten, etwa für genetische Analysen, zur Digitalisierung von Pflanzen oder zur Erfassung von Tierlauten. Und wenn es nach Thomas von Rintelen und Rudolf Meier geht, wird bald auch der DiversityScanner in Vietnam zum Einsatz kommen. Mehrere Kooperationen mit dem Museum für Naturkunde zur Artenentdeckung laufen auch nach dem Ende des Projekts weiter, etwa zu Schmetterlingen, Ameisen – und natürlich Süßwassergarnelen. Die blinde Höhlengarnele fanden die vietnamesischen Forscher:innen seither auch in drei weiteren Höhlen. Doch erst nach vielen Stunden taxonomischer Arbeit stand fest: Es ist tatsächlich eine neue Art. Unter dem Mikroskop untersuchten sie die äußere Form der Garnele, sahen, dass ihre Augen kaum ausgebildet sind, der Panzer sich nicht zu einem spitzen Schwanz verjüngt und sie sehr schlanke Beine hat.

Diese morphologische Untersuchung genügte bereits, um anzunehmen, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine neue Art handelt. Doch erst eine DNA-Sequenzierung in Berlin, deren Ergebnis mit frei verfügbaren Daten aus der weltweiten GenBank-Datenbank abgeglichen wurde, bestätigte die These. Sie gaben der Neuentdeckten den Namen Caridina thachlam – Caridina für die Gattung innerhalb der Süßwassergarnelen und thachlam nach einer der Höhlen, in der sie so überraschend aufgetaucht war.

Text: Mirco Lomoth
Fotos: Pablo Castagnola, Bernhard Schurian