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Die Geschichtensammlerin

Elisabeth Heyne

Der Mensch verändert die Natur mit aller Kraft. So sehr, dass die Wissenschaft eine neue geologische Epoche erkennt: Das Anthropozän – das Zeitalter des Menschen. Elisabeth Heyne baut am Museum für Naturkunde Berlin eine digitale Sammlung von alltäglichen Dingen auf, die Menschen mit dieser neuen Realität verbinden.

Da wäre zum Beispiel Furby. Elisabeth Heyne stellt die kleine plüschige Figur mit grünweißem Plastikfell vor sich auf den Tisch und klappt ihr die Augenlider auf. Die Batterie ist erschöpft. Früher konnte sie blinzeln, mit den Ohren wackeln, den Schnabel öffnen, sogar sprechen. "Es ist ein Kinderspielzeug, das aussieht wie ein Tier, aber keines ist, man kann nicht genau zuordnen, ob es Eule, Katze oder Fledermaus sein soll", sagt Elisabeth Heyne. Die 34-Jährige baut für das Museum für Naturkunde Berlin und gemeinsam mit dem Pariser Naturkundemuseum eine völlig neue Sammlung auf. Keine, die sich aus Funden wissenschaftlicher Expeditionen speist, wie üblich, sondern aus ganz persönlichen, mitunter alltäglichen Gegenständen, die jede und jeder beitragen kann.

Objekte, die für das neue Zeitalter stehen, in das die Menschheit die Erde geführt hat: das Anthropozän. An denen sich nachvollziehen lässt, wie der Mensch zu einem bestimmenden Faktor im System Erde geworden ist und immer tiefer in natürliche Abläufe eingreift. Furby, dieses Halbwesen aus Eule, Fledermaus und Katze, war gerade zwei Jahre auf dem Markt, als der Begriff des Anthropozän um 2000 ins öffentliche Bewusstsein trat. "Es ist bezeichnend für unsere Zeit, dass wir künstliche, hybride Tiere bauen, mit denen unsere Kinder dann spielen können", sagt Heyne. Man spürt, wie sie es liebt, mit einer Art Röntgenblick in die Dinge hineinzuschauen, eine zweite Ebene in ihnen zu suchen, eine kulturelle, auf der sich Geschichten abspielen und Zusammenhänge zeigen.

Als Literaturwissenschaftlerin ist es für sie auch selbstverständlich, die großen Begriffe unserer Zeit zu sezieren, sie quasi unters Mikroskop zu legen und zu durchleuchten, wie Naturwissenschaftler:innen es bei einem Organismus täten. Das Eigenleben solcher Begriffe wie "Anthropozän" interessiert Heyne besonders: wie jeder einzelne Mensch das Anthropozän wahrnimmt, und all die Veränderungen, für die es steht. Davon sollen die Dinge der Sammlung erzählen. "Natur der Dinge" – auf Französisch "Histoires des Natures" – ist eine digitale Sammlung, deren Objekte als Fotos, Sound oder kurze Videos auf eine zentrale Plattform hochgeladen werden und die darauf ausgelegt ist, immer weiter zu wachsen. Schon jetzt beinhaltet sie um die 150 Objekte, die man online durchstöbern, auf einer Karte anzeigen, kommentieren und durch eigene Beobachtungen erweitern kann.

Natur der Dinge App

Furby ist dort genauso vertreten wie ein Schneemann, ein Knäuel Elektroschrott oder eine Postkarte "von Tante Hedwig" von 1962, die den grünen Harz zeigt – mit gesunden Fichten bis zum Horizont. Die Besitzer:innen der Karte haben auch eine zweite Harzansicht hochgeladen, von einer Wanderung im Herbst 2022 – mit toten Bäumen bis zum Horizont. "Wir hoffen, dass die Natur stark genug ist", haben sie dazu geschrieben. "Viele Menschen fragen sich: Was passiert hier eigentlich gerade um uns herum?", sagt Heyne. "Wir wollen mit der Sammlung verstehen, wie sie den Wandel der Umwelt vor der eigenen Haustür und ihre eigene Rolle darin wahrnehmen." Schon für ihre Doktorarbeit an der Technischen Universität Dresden und der Universität Basel spürte Elisabeth Heyne Konzepten und Begriffen nach. Sie fragte, weshalb die westliche Moderne dazu tendiert, die Welt in Kategorien zu fassen, wie sie Fakt und Fiktion unterscheidet, Natur und Kultur – und damit die Natur zu etwas Fremden gemacht hat, das sich bedenkenlos ausbeuten lässt.

Als sie vor zwei Jahren dann die Ausschreibung des Museums für Naturkunde Berlin für die Leitung einer Sammlung des Anthropozäns las, sah sie eine große Chance. "Ich wollte unbedingt Wissenschaft im engen Austausch mit der Gesellschaft machen", sagt sie. Wenig später trat sie durch das ehrwürdige Portal an der Invalidenstraße. Eine Geisteswissenschaftlerin allein auf weiter Flur, könnte man meinen, in einem Museum, in dem Klasse, Ordnung und Art zählen. Harte biologische Fakten also. Doch keineswegs. "Es gibt hier eine ganze Abteilung, die mit einem kultur- und sozialwissenschaftlichen Blick auf Natur schaut", erzählt Heyne. "Diese Verschränkung von kulturellem Wissen und den Sammlungsobjekten ist einzigartig für ein Naturkundemuseum."

Mit der digitalen Sammlung des Anthropozän geht Elisabeth Heyne nun einen Schritt weiter. Denn diese entsteht im Dialog mit der Gesellschaft. Jede und jeder kann auf der Website naturderdinge.de ein Foto eines Objekts hochladen und etwas dazu schreiben. Die Plattform übersetzt alle Texte automatisch ins Französische und Englische. Heynes Team organisiert auch Sammelworkshops mit Schüler:innen oder fordert Menschen bei Veranstaltungen auf, in den Tiefen ihrer Hand- und Hosentaschen nach Dingen des Anthropozän zu wühlen. So wächst eine dreisprachige Datenbank heran, die sehr persönliche Geschichten zur Veränderung der Umwelt und zur Beziehung zwischen Mensch und Natur enthält. "Wir wollen von den Menschen lernen, statt unser Wissen nur weiterzugeben", sagt Heyne. Über lange Zeit seien es schließlich die Naturkundemuseen gewesen, die ein Bild von der Natur geprägt haben, das viele der Probleme des Anthropozän mitverursacht hat – und die sich deshalb dringend für neue Sichtweisen öffnen müssten.

Fotocollage Elisabeth Heyne und Objekt Furby

Wenn Elisabeth Heyne selbst ein Objekt hochladen würde, was sie bewusst nicht tut, dann wäre das ein Stück Braunkohle. So wie jenes aus der mineralogischen Sammlung, das sie mitgebracht hat. Ein spröder, dunkelbrauner Brocken, der nach Millionen von Jahren noch die Struktur des Baumes erahnen lässt, zu dem er einst gehörte. Für Heynes "Röntgenblick" ist er: "uralte, verdichtete organische Materie, die wir in Sekundenschnelle verbrennen, um Strom zu gewinnen, und durch die wir das Klima anheizen". Sie ist in der Lausitz aufgewachsen, hat in der Kindheit den Braunkohleabbau miterlebt und beobachtet, wie die Region zu einer der trockensten in Deutschland wurde. Mit der Sammlung hofft sie, Diskussionen über solche Prozesse anzustoßen und das Bewusstsein dafür zu wecken, dass all unser Handeln Auswirkungen auf die Natur hat.

Dazu gehöre auch die Erkenntnis, dass das Anthropozän zu großen Teilen von Industrieländern verursacht wurde, die negativen Folgen aber vor allem im Globalen Süden spürbar sind. "Anthropozän ist ein verzerrender Begriff, da er vor allem von einer westlichen Perspektive aus auf die Welt schaut, aber er ist ungemein hilfreich, um ins Gespräch darüber zu kommen, dass der Mensch dringend Beziehungsarbeit mit der Natur leisten muss", sagt sie. "Ich glaube, dass viele Leute schon merken, dass nicht immer alles größer, besser und schneller werden kann."