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Jutta Helbig: Die Bewahrerin

Jutta Helbig

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Journal für Natur (Ausgabe 4/2020).

Die Räume des Museums für Naturkunde Berlin stecken voller Geschichte. Bald soll das denkmalgeschützte Gebäude saniert werden. Die Kunsthistorikerin Jutta Helbig erfasst die Schätze der Vergangenheit, um sie für die Zukunft zu bewahren.

Sie schaut auf diese Eule wie auf eine alte Bekannte. Eigentlich ein unscheinbares Tierchen, das da hinter der Glasscheibe an einer hölzernen Wurzel krallt, das Gefieder dunkelbraun und weiß gescheckt, die pechschwarzen Augen umrahmt von hellem Flaum, der aussieht wie eine zu groß geratene Brille. Strix seloputo steht auf dem Etikett, der südostasiatische Pagodenkauz. "Er hat diesen goldenen Schimmer am Schnabel, der mir immer wieder auffällt", sagt Jutta Helbig. "Es ist meine Lieblingseule." Helbig, eine große Frau mit schulterlangen braunen Haaren, die auf angenehme Weise Ruhe und Eifer zugleich ausstrahlt, steht im Vogelsaal des Museums für Naturkunde Berlin, zwischen hohen, von Eisenprofilen gefassten Vitrinen. Darin: hunderte präparierte Vögel auf Ästen und Sockeln, winzige Kolibris, scharlachrote Königssittiche, weiße Moorschneehühner, blau changierende Paradiesvögel, Straußenskelette, eng nebeneinandergedrängt wie in einem Setzkasten der Naturwunder. "So hat man bis Mitte des 19. Jahrhunderts die Tiere ausgestellt, als Standpräparate in systematischen Reihen nach Arten", erklärt Helbig. Die Vitrinen standen schon hier, als das Museum vor mehr als 130 Jahren eröffnet wurde; sie haben zwei Weltkriege überlebt, vier Staatsformen und mehr als 20 Museumsdirektoren. Andere wurden jedoch von den Druckwellen der Bomben zerstört. "Viele Vögel sind dadurch bis auf den Museumshof geschleudert worden", erzählt Helbig. "Die Präparatoren haben sie in jahrzehntelanger Arbeit wieder hergerichtet."

Nahezu jeder Raum in diesem Gebäude ist gesättigt von Geschichte. Doch die Ansprüche an die Erforschung und Präsentation der Natur verändern sich stetig – wie bei einem Organismus, der die Vergangenheit in seinen Genen trägt und sich doch immer wieder neu anpasst. In den kommenden Jahren wird sich das Museum für Naturkunde Berlin aufs Neue häuten. Ein Zukunftsplan sieht den Umbau und die Sanierung des historischen Gebäudekomplexes vor, Neubauten für Labore und Magazine und einen für die Stadtgesellschaft offenen Wissenschaftscampus gemeinsam mit der benachbarten Humboldt-Universität.

"Die Vergangenheit darf dabei nicht übergangen werden", sagt Helbig. Ihre Aufgabe ist es, die historischen Schätze des Museums zu inventarisieren und zu dokumentieren, Konzepte zu entwerfen für den Umgang mit denkmalgeschützter Architektur, historischem Mobiliar und kuriosen Funden.

Treppenhaus

Die Ergebnisse werden in den Entwurfsprozess einfließen, der den Zukunftsplan des Museums in Architektur gießen wird. "Es geht darum, nach vorne zu schauen und zugleich die Identität und Geschichte des Hauses zu bewahren", sagt Helbig. Die gläsernen Vitrinen im Vogelsaal sind mit dem Gebäude quasi verschmolzen. Sie wurden um gusseiserne Säulen herumgebaut, und sind fest im Boden verankert. Auch sie sind denkmalgeschützt. "Doch sie entsprechen längst nicht mehr aktuellen Standards, wir können unsere Objekte darin nicht zeitgemäß lagern und inszenieren", sagt Helbig. Daher feilt sie an den Kompromissen zwischen Zukunftsfähigkeit und Denkmalschutz: Könnte man einen Teil der Vitrinen erhalten und sich von anderen trennen, damit sie nicht zum Hindernis werden? Für den Vogelsaal steht fest: Hier sollen die historischen Vitrinen samt veralteter Präsentation der Vögel als ein bewusstes Fenster in die Geschichte erhalten bleiben – während hinter den Kulissen rund 200.000 Vogelpräparate in Stahlschränken nach modernsten Standards auf bewahrt werden. "Ich setze mich dafür ein, dass dieses Flair auch anderswo erhalten wird", sagt Helbig. "Natürlich können wir nicht alles bewahren, was alt ist, aber wir müssen mit Bedacht aussortieren."

Jutta Helbigs Leidenschaft für die historische Essenz des Museums für Naturkunde Berlin begann vor zwölf Jahren. Für ihre kunstgeschichtliche Doktorarbeit wühlte sie sich im Geheimen Staatsarchiv in Dahlem durch alte Grundrisse und Bauakten. "Der Bau des Berliner Museums fiel in die Zeit der Museumsreformen, das fand ich extrem spannend", sagt sie. Aus England stammte damals die Idee, in Naturkundemuseen Ausstellung und Forschung voneinander zu trennen. Auch in Berlin entbrannte ein Streit über diese Frage zwischen dem Architekten August Tiede und dem designierten Direktor Wilhelm Peters. Tiede wollte ein progressives Gebäude schaffen, die Forschungssammlung in modernen Magazinräumen unterbringen und eine separate Schausammlung kuratieren lassen, Peters hingegen bestand darauf, die Objekte im ganzen Haus nach alter Manier, in systematischen Reihen, auszustellen. Er setzte sich durch, starb aber noch vor der Eröffnung – und mit ihm seine nicht mehr zeitgemäße Idee.

Der erste Museumsdirektor Karl August Möbius konzentrierte die öffentliche Schausammlung auf das Erdgeschoss und verschloss die zwei repräsentativen Treppenhäuser zum Obergeschoss, wo die Forschungssammlung einzog. "Mit dieser radikalen Trennung und der ersten didaktischen Ausstellung dieser Größe wurde das Berliner Naturkundemuseum zu einem Vorreiter in Europa." Die erneute Häutung sieht nun vor, beide Treppenhäuser wieder für Museumsgäste zu öffnen und im Obergeschoss neue Ausstellungsräume und Einblicke in die Forschung zu schaffen.

Schaukasten Sammlung

Das Museum mit all seinen Geschichten ließ Jutta Helbig nicht mehr los. 2017 ergriff sie die Chance, zwei Jahre lang in der Sammlung der Bienen, Wespen und Ameisen zu arbeiten. Diesmal erkundete sie das Gebäude von innen heraus. "Es war unglaublich spannend, die Türen alter Schränke zu öffnen", sagt sie. "Man entdeckt noch immer wahnsinnig viel." Zum Beweis öffnet sie in einem der Sammlungssäle eine vergilbte Zigarrenschachtel. Im Inneren liegen mit viel Akribie beschriftete und mit kleinen Metallstiften fixierte Blätter und Zweige, auf denen pockenähnliche Pflanzengallen zu sehen sind, von Wespen, Mücken oder Parasiten verursachte Geschwulste. Das Arrangement wirkt wie die Vorlage für ein enzyklopädisches Schaubild. "Nach aktuellen Standards müssen solche Gebinde wegen des möglichen Schädlingsbefalls und gesundheitsschädlicher Biozide in Insektenkästen einsortiert werden", sagt Helbig. Dennoch versucht sie etwas vom nostalgischen Charme in die Zukunft hinüberzuretten. "Wir fotografieren alles und ganz besondere Funde bewahren wir als historische Zeugnisse auf."

Helbig führt zum Haupteingang des Museums, der einige Meter zurückgesetzt von der viel befahrenen Invalidenstraße liegt und von zwei Bauten eingerahmt wird: dem Verkehrsministerium, früher Preußische Geologische Landesanstalt, und dem Thaer-Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften der Humboldt-Universität, früher die "Königliche Landwirthschaftliche Hochschule zu Berlin". Alle drei bildeten 1889 ein Ensemble. "Die preußischen Minister wollten hier Wissenschaft, Lehre und Ausstellung zu einem Wissenschaftsforum zusammenführen", sagt Helbig. "Mit dem geplanten Campus wiederholt sich diese Geschichte nun auf gewisse Weise."

Am Haupteingang wird sich auch mitentscheiden, wie offen das Museum nach der Sanierung tatsächlich sein wird. Noch führen Treppenstufen zum Portal, wer mit dem Rollstuhl oder Kinderwagen kommt, muss einen Nebeneingang nehmen. "Dieses Haus war von Anfang an für die Allgemeinheit gedacht", sagt die Bewahrerin der Vergangenheit. "Ich sehe es als Weiterführung des historischen Auftrags, das Museum jetzt für alle Menschen gleichermaßen zugänglich zu machen."

Text: Mirco Lomoth
Fotos: Pablo Castagnola