Luisa Marten
Oktober 1911, im Nordwesten von Seram, der zweitgrößten Insel Malukus: Ein Mann sitzt auf dem Vorbau eines offenen Holzhauses. Eine Frau sitzt ihm gegenüber und hält seinen rechten Arm. Ein Blick auf die Rückseite des Fotoabzugs verrät: die Frau tätowiert den jungen Erwin Stresemann.
Karl Deninger (1878–1917), Geologe an der Universität Freiburg, initiierte und leitete die "II. Freiburger Molukken Expedition" (1910–1912), an der neben dem Naturkundler Erwin Stresemann (1889–1972), auch Odo Deodatus I. Tauern (1885–1926) teilnahm, seinerseits Ethnologe und Filmemacher. Die Inseln Malukus – die im Deutschen auch als Molukken bekannt sind – liegen zu diesem Zeitpunkt seit über 300 Jahren im niederländischen Machtbereich, welcher immer stärker in das Leben auf den Inseln eingreift. So wird in Seram unter anderem die Kopfjagd untersagt, eine kulturelle Praktik, bei der durch die Erbeutung eines menschlichen Kopfes eine Statusänderung erfolgt. Militärische Expeditionen üben Druck auf die Bevölkerung aus und gehen gewaltsam gegen Verstöße vor. Inmitten dieser bedeutsamen Zeit treffen die Expeditionsteilnehmer am 29. April 1911 am Hafen von Amahai in Süd-West-Seram ein. Schon kurze Zeit später lernen sie Markus Mailopu (? – 1917 [?]) kennen. Mailopu, so berichtet es Erwin Stresemann in seinem Tagebuch, kommt aus dem christlich geprägten Ort Paulohi. Dies, so ist zu vermuten, begünstigt die Kommunikation zwischen den Beteiligten und so ist fortan auch Markus Mailopu Teilnehmer der Expedition.
Sein Wissen über die Sprache und Kultur seiner Heimat teilt Mailopu mit Stresemann und Deninger und ermöglicht ihnen somit eine erfolgreiche Reise: Die Expedition trägt maßgeblich zur Kenntnis der Region innerhalb der deutschen Akademie bei. In den folgenden Jahren veröffentlichen jedoch nur drei Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse in den Bereichen der Geografie, Zoologie, Botanik, Linguistik und Ethnologie in europäischen Fachkreisen. Mailopu trägt zwar zu diesen Publikationen maßgeblich bei, wird jedoch lediglich von Stresemann im Vorwort seines Buchs "Die Paulohisprache – Ein Beitrag zur Kenntnis der Amboinischen Sprachengruppe" von 1918 namentlich erwähnt.
Über das fotografierte Ereignis berichtet Stresemann in seinen Veröffentlichungen nicht, doch er beschreibt es in seinem Tagebuch, welches sich heute im Universitätsarchiv der LMU München befindet:
"13.X.1911. Am Vormittag lasse ich mir in Hatunuru Walmatau von der Tätowiererin, einer netten älteren Frau, deren kleines Mädel ich auf Ringwurm behandle, die haapita sialaun auf dem rechten Unterarm anbringen." (Emge 2004: 84).
Laut Stresemanns Ausführungen im weiteren Textverlauf handelt es sich bei Ha’apita um Ziertätowierungen, die je nach Ortschaft sowohl von Frauen als auch von Männern getragen wurden. Wie auch bei anderen Inseln der Region, wurde der Akt des Tätowierens in Maluku häufig mit der Kopfjagd in Verbindung gebracht. Doch durch das verstärkte Eingreifen der Niederländer war diese Praxis zum Zeitpunkt der Expedition bereits weitgehend verdrängt. Die Beschriftung auf der Rückseite der Fotografie verweist zwar auf eine Verbindung zwischen Stresemanns Tattoo und der Kopfjagd, bei dem in neuerer Zeit angebrachten Vermerk handelt es sich jedoch um eine anekdotische Anmerkung, deren historischer Gehalt nicht belegt ist.
Stresemanns Entscheidung sich tätowieren zu lassen, gründete wohl eher auf einer zeitgenössischen Praxis der ethnografischen Feldforschung als auf einer tatsächlich unter seiner Beteiligung durchgeführten Kopfjagd. Über die konkreten Beweggründe Stresemanns, lässt sich zwar nur spekulieren, doch finden sich in der Geschichte der Ethnografie verschiedentlich Nachweise über Tätowierungen von Forschungsreisenden und Ethnolog*innen während ihres Feldaufenthaltes. Überraschenderweise ist dieser Aspekt der Feldforschung in der Fachgeschichte bislang nicht systematisch untersucht worden.
Das Tattoo als körperliches Zeugnis einer Begegnung sollte den Forschenden nicht nur Glaubwürdigkeit vor anderen Wissenschaftler*innen verleihen, sondern stützte möglicherweise auch die Vorstellung einer ideellen Übertragung: Nicht nur die dunkle Tätowier-Flüssigkeit bahnt sich den Weg unter die Haut und schreibt sich in den Körper des Tätowierten ein. Mit ihr – so die Hoffnung – wird auch Wissen übertragen, ein körperliches Wissen, welches dem Forschenden erst durch den Akt des Tätowierens offenbar wird. In dieser Praxis vollzieht sich gleichzeitig eine ethnografische Annäherung an die Gastgemeinschaft. Ähnlich der Teilnahme an einem Ritual verändert die Tätowierung die Beziehung der beteiligten Personen.
In diesem Kontext erzählt die Fotografie insbesondere auch von dem Machtgefälle, das der Situation zu Grunde liegt. Denn so viel über Stresemann bekannt ist, der ein einflussreicher Ornithologe werden sollte, so wenig wissen wir über die Frau, die ihn tätowierte oder auch über Markus Mailopu. Zwar reiste jener nach der Expedition mit nach Deutschland und nahm an der wissenschaftlichen Arbeit teil – Stresemann widmete ihm sogar eine Büste – doch eigenständige Publikationen sind vom ihm nicht überliefert und sogar seine genauen Lebensdaten sind bisher unbekannt (Nowak 2003).
Das Zusammentragen von Informationen über die Beteiligung und Bedeutsamkeit lokaler Akteure an der Entstehung von akademischem Wissen wird durch die Zerstreuung von Stresemanns Nachlass erschwert. Sein Forschungsinteresse in den Jahren der Expedition nach Maluku umfasste die Themen Geografie, Zoologie, Linguistik sowie Ethnographie. Sein Nachlass wurde den Disziplinen entsprechend später auf verschiedene Institutionen verteilt. Stresemanns Reisetagebücher werden, zusammen mit einigen Aufzeichnungen Deningers und Tauerns, im Universitätsarchiv der LMU München aufbewahrt, während die Dokumente zoologischen Inhalts am Museum für Naturkunde in Berlin archiviert sind. Während der Expedition gesammelte Ethnografika finden sich zudem in den Depots des Weltkulturen Museums in Frankfurt am Main sowie dem Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln. Fotografien von der Reise wiederum lagern im Ethnologischen Museum Berlin. Damit sind nicht nur die fachlichen Zusammenhänge der Arbeit Stresemanns unkenntlich geworden – auch die Geschichte der Expedition und ihrer Teilnehmer ist in den Kartons der Archive versunken. Mehr über diese Verbindungen zu erfahren ist Aufgabe künftiger Forschungen.
Steckbrief
- Titel: "Erwin Stresemann in W-Seram 1911 wird von einer Malayin mit dem Kopfjager-Abzeichen tätowiert" (lt. Beschriftung Rückseite*)
- Signatur: BI/2115 (Inv.Nr. C-4897)
- Provenienz: unbekannt
- Material: fotografischer Abzug
- Photograf: unbekannt
- Zeit der Entstehung: 13.10.1911
- Ort der Entstehung: Hatunuru, West-Seram
- Verschlagwortung: Erwin Stresemann, Markus Mailopu, Seram, Maluku, Tätowierung, Fotografie, Portrait
* Anmerkung: Der auf der Rückseite verzeichnete Titel der Fotografie sowie dessen Verzeichnung im Katalog gehen auf Angaben der Expeditionsteilnehmer zurück. Sie beinhalten Kategorisierungen und Typisierungen von einzelnen Personen und Personengruppen, weshalb dieser Text von der Verwendung jener Begrifflichkeiten absieht.
Literatur
Andus Emge (Hg.): Erwin Stresemann: Tagebücher, Berichte und Briefwechsel der II. Freiburger Molukken-Expedition 1910–1912 Singapur, Bali und die Molukkeninseln Ceram und Buru. Bonn 2004 (letzter Zugriff: 31.07.2023).
Alfred Gell: Wrapping in Images. Tatooing in Polynesia, Oxford 1993.
Sinah Theres Kloß (Hg.): Tattoo Histories. Transcultural Perspectives on the Narratives, Practices, and Representation of Tatooing, New York & Oxon 2020.
Lars Krutak: Tattoo Traditions of Asia: Ancient and Contemporary Expressions of Identity, Honolulu 2024.
Maarten Manse: "From Headhunting to Head Taxes", in: Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde, Jg. 177 (2021), H. 4, S. 524–558.
Sandra Miehlbradt: Zeugnisse im Archiv: Markus Mailopu, Bilder der Natur 06/2020, Museum für Naturkunde Berlin, Berlin 2020 (letzter Zugriff: 31.07.2023).
Sandra Miehlbradt: "Von königlichen Audienzen, stillen Helfern und Jagdtrophäen. Das Sammeln naturkundlicher Objekte für das Museum für Naturkunde im kolonialen Kontext", in: Koloniale Spuren in den Archiven der Leibniz-Gemeinschaft, hg. v. Heinz Peter Brogatio und Mathias Röschner, Halle 2020, S. 12–23.
Eugeniusz Nowak: "Professor Erwin Stresemann (1889–1972) – ein Sachse, der die Vogelkunde in den Rang einer biologischen Wissenschaft erhoben hat", in: Mitteilungen des Vereins Sächsischer Ornithologen, Jg. 9, Band 9m Sonderheft 2 (2003), S. 5–95.
Erwin Stresemann: Die Paulohisprache. Ein Beitrag zur Kenntnis der Amboinischen Sprachengruppe, Den Haag 1918.
David van Reybrouck: 2022. Revolusi: Indonesien und die Entstehung der modernen Welt. Berlin 2022.
Bilderunterschriften
- Abb. 1: Archivansicht einer Fotografie von Erwin Stresemann mit unbekannter Frau 1911 beim Tätowieren, West-Seram, fotografischer Abzug unbekannter*r Fotograf*in, 1911, 12,5 x 17 cm, MfN, HBSB, BI/2115 © Carola Radke, MfN.
- Abb. 2: Archivansicht Rückseite einer Fotografie von Erwin Stresemann mit unbekannter Frau 1911 beim Tätowieren, West-Seram, fotografischer Abzug unbekannter*r Fotograf*in, 1911, 12,5 x 17 cm, MfN, HBSB, BI/2115 © Carola Radke, MfN.
- Abb. 3: Detailansicht einer Fotografie von Erwin Stresemann mit unbekannter Frau 1911 beim Tätowieren, West-Seram, fotografischer Abzug unbekannter*r Fotograf*in, 1911, 12,5 x 17 cm, MfN, HBSB, BI/2115 © Carola Radke, MfN.