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Mit neun Augen durch die Havel

Nasspräparate zweier Meerneunaugen

Neunaugen gehören zu unserer faszinierenden und vielfältigen Lebewelt, auch wenn die "Fische" auf den ersten Blick bestenfalls Neugier wecken. Meerneunaugen (Petromyzon marinus) können Ökosysteme stark beeinflussen – eingeschleppt mit Schiffen, dezimieren sie in den Großen Nordamerikanischen Seen die Bestände von Marktfischen empfindlich. Denn mit ihrer Raspelzunge und einer Saugscheibe voller Zähne halten sie sich an ihnen fest, um deren Blut und Gewebe zu fressen. Sie kommen gut über die Runden, was man von ihren europäischen Verwandten nicht sagen kann. Sie zählen zu den bedrohten Populationen.

Neunaugen sind die letzten Überlebenden einer urzeitlichen Wirbeltiergruppe, die es schon doppelt so lange gibt wie die Dinosaurier. Forschende können viele Vergleiche mit fossilen kieferlosen Wirbeltieren anstellen und Fragen der frühen Wirbeltierevolution aufklären.

Das Meerneunauge wird in den Oberläufen von Flüssen geboren und wandert nach mehreren Jahren Larvenzeit ins Meer, um dort zu fressen. Es kam in allen Flüssen vor, die zur Nord- und Ostsee entwässern. In Berlin war es schon immer selten. Heute gilt es bei uns als verschollen. Die Larven erlagen der Gewässerverschmutzung und die erwachsenen Tiere den Gefahren und Hindernisse auf den Wanderungen durch die Flüsse.

Früher gab es aber größere Bestände von Flussneunaugen (Lampetra fluviatilis) in Spree und Havel, die in Europa auch wirtschaftlich genutzt wurden. Die Larven der Neunaugen, auch "Querder" genannt, wurden bis Mitte des 19. Jahrhunderts als eigene Art beschrieben. August Müller wies dann 1856 in Berlin an den Bachneunaugen der Panke die Verwandlung der "Querder" in erwachsene Neunaugen nach.

Im Rahmen der EU-Wasserrahmenrichtlinie gibt es viele Bemühungen, unsere Flüsse wieder für Wanderfische wie das Meerneunauge durchgängig zu machen. Einige Nachweise gab es in den letzten Jahren in der unteren Havel. Der Weg nach und durch Berlin ist aber noch lange nicht frei.

Die Meerneunaugen im Berliner Naturkundemuseum sind Beifänge kommerzieller Fischerei. Ein Exemplar wurde 1868 in der Havel bei Pichelswerder gefangen, was schon damals eine Seltenheit war. Ein zweites und drittes Exemplar, 1889 an das Museum übergeben, hatten es bis in die "Unterspree zwischen Berliner Damm und Kurfürstenbrücke" geschafft. Die Exemplare sind in Alkohol konserviert in der Nasssammlung im Besucherbereich des Ostflügels zu sehen.

Dieser Text ist Teil der Aktion "Vielfalt erhalten!" zum Weltnaturgipfel 2022 in Montreal.

Text: Dr. Gesine Steiner
Foto: Carola Radke