Polina Kiourtidis & Hanna Wüste
Auf einem an den Rändern leicht beschädigten Papier wurde mit Bleistift und Wasserfarbe ein Huftier mit langen gewundenen Hörnern gezeichnet, das seinen Kopf beugt, um von einem Heuhaufen zu fressen. Es handelt sich dabei um eine im Sahara-Gebiet heimische und gegenwärtig vom Aussterben bedrohte Mendesantilope (Addax nasomaculatus). Die Anatomie des Tierkörpers wird durch helle Lichtreflexe betont, die ebenso die Struktur des zotteligen Fells am Hals hervorheben. Auf dem hellbraun gefliesten Boden zeichnet sich der Schatten der Antilope ab. Sie steht in einem geschlossenen Raum. Die rechte Seitenwand besteht aus Ziegeln, weiter hinten ist ein stallartiger Verschlag zu sehen, dessen obere Hälfte aus Holzstreben besteht, die Gittern ähneln. Was hinter dem Stall liegt, ist nicht zu erkennen. Nur ein hellblauer Fleck in der Bildmitte deutet Tageslicht an. Das Tier und seine Umgebung gehen farblich ineinander über. Die Wände verzerren sich nach oben hin perspektivisch, während die Darstellung der Antilope anatomisch naturgetreu wirkt. Es entsteht der Eindruck, als sei das Gehege um sie herum gezeichnet worden.
Die auf der Zeichnung links unten erkennbare Signatur "AH" verweist auf die Zeichnerin Anna Held (1859–1898). Das Aquarell liegt heute zusammen mit anderen derselben Künstlerin in der Bildsammlung des Archivs des Museums für Naturkunde in Berlin. Ihre Zeichnungen geben verschiedene Schaffensstadien wieder, von unvollendeten Skizzen bis hin zu publizierten Illustrationen. Lange Zeit blieb dieser Bestand unbearbeitet. Erst Mitte der 1990er Jahre widmete sich die damalige Kustodin der Säugetiersammlung, Renate Angermann, dieser Sammlung einer weiblichen Tierillustratorin. Anna Held war seit 1893 als Tiermalerin am Museum für Naturkunde tätig. Überliefert sind vor allem Bilder, mit denen Helds Ehemann, Paul Matschie (1861–1926), in der Zeit Kustos der Säugetiersammlung, seine für Wissenschaft und Populärwissenschaft bestimmten Artikel veranschaulichte.
Genau aus diesem Grund gewann die Tiermalerei als Profession in der Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Neben naturkundlichen Sammlungen kam dem Zoo als Ort, in dem die lebende Tierwelt vermeintlich naturgetreu der Öffentlichkeit nähergebracht werden sollte, dabei eine besondere Bedeutung zu. Hier generierten Tiermaler*innen Wissen über die Anatomie und das Verhalten nicht heimischer Tiere und erschufen damit ein bestimmtes Bild von Natur. Dabei mussten sie nicht notwendigerweise ein Studium der Kunst oder Naturwissenschaft vorweisen. Dieser Umstand ermöglichte somit auch Frauen, sich dieser Betätigung zu widmen. Die dargestellte Natur war in einem fernen Gebiet gejagt und gefangen, dann in einem Zoogehege oder Museum ausgestellt worden. Nur durch diesen Umstand wurden die Tiere für die Zeichner*innen zugänglich. Der Wert der Bilder für die Wissenschaft, der in ihrer Authentizität begründet liegt, wurde trotz dieses Kontextes nicht in Frage gestellt. Man könnte sogar sagen, die Gefangenschaft der Tiere ermöglichte erst ihre wissenschaftliche Erfassung.
Besonders prominent als populärwissenschaftliches Medium, in der auch Anna Helds Illustrationen veröffentlicht wurden, ist die Zeitschrift Die Gartenlaube (1853–1984). Als erstes großes Produkt der Massenpresse vermittelte diese auch naturkundliches Wissen an eine breite Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum. Zum Beispiel berichtete dort Paul Matschie in kurzen Beiträgen von seiner Tätigkeit als Kurator der Säugetiersammlung. Mit Anna Helds Zeichnungen wurden von ihm neu beschriebene Tierarten auch visuell dargestellt. Die dabei häufig gewählte Bildunterschrift verweist auf den Entstehungskontext der Illustrationen: "Nach dem Leben gezeichnet" suggeriert Naturtreue und Authentizität.
Die hier beschriebene Illustration einer Mendesantilope sticht durch ihre Darstellung im Tierhaus eines Zoos hervor. Es ist eines der wenigen von Held überlieferten Bilder, das explizit ein Tierhaus und somit die hinteren Kulissen eines Geheges zeigt. So und nicht anders, könnte man meinen, hat die Zeichnerin die Mendesantilope im Zoologischen Garten vor sich gesehen. Die vermeintliche Authentizität steht jedoch visuell im Widerspruch zum perspektivisch verzogenen Bildhintergrund und der etwas künstlich wirkenden Pose des Tieres. Dieser Kontrast verdeutlicht die Delokalisation der Antilope zwischen Naturraum und Gehege. Des Weiteren verweist er auf ein entscheidendes Paradox: Besitzt nicht gerade das Bild eines Wildtieres in seinem 'Gefängnis' größere Originaltreue als eine Abbildung, die es in freier Wildbahn zeigt? Ist es nicht schließlich so, dass ein Tier, das in der Sahara heimisch ist, für die Zeitgenossen Helds in erster Linie im Kontext eines deutschen Zoos authentisch gezeigt werden kann? Die Naturtreue der Illustration Helds hat folglich ein weiteres Motiv zum Thema: Der in ihr angedeutete Raum von tierlicher Gefangenschaft eröffnet den Blick auf die gewaltsamen Hintergründe der Praxis sowie Bilder der Zoologie.
Steckbrief
- Titel: Mendesantilope (Addax nasomaculatus) im Tierhaus des Zoos Berlin
- Signatur: ZM B VIII/453
- Provenienz: Bildsammlung des Archivs des Museum für Naturkunde Berlin
- Material: Zeichnung auf Papier
- Urheberin: Anna Held (1859–1898)
- Datierung: undatiert
- Ort der Entstehung: im Tierhaus eines unbenannten Zoos
- Verschlagwortung: Bildsammlung, Sammlung Anna Held, Zeichnung, Mendesantilope, Addax nasomaculatus, Zoo
Literatur
Arnd Albrecht und Ulrich Moritz: "Anna Held, Tiermalerin", in: Klasse, Ordnung, Art. 200 Jahre Museum für Naturkunde, hg. v. Ferdinand Damaschun u.a, Berlin 2010, S. 200–201.
Kathrin Amelung: "Illustratio(n)", in: 23 Manifeste zu Bildakt und Verkörperung, hg. v. Marion Lauschke und Pablo Schneider, Berlin/Boston 2017, S. 97–104.
Renate Angermann: "Anna Held, Paul Matschie und die Säugetiere des Berliner Zoologischen Gartens", in: Bongo Berlin, Jg. 24 (1994), S. 107–138.
Kirsten Belgum: Popularizing the nation. Audience, representation, and the production of identity in „Die Gartenlaube“ 1853–1900, Lincoln NE 1998.
Ilse Jahn: "Die Ehefrau in der Biographie des Gelehrten", in: Geschlechterverhaltnisse in Medizin, Naturwissenschaft und Technik, hg. v. Christoph Meinel, Bassum/Stuttgart 1996, S. 110–116.
Jae-Baek Ko: Wissenschaftspopularisierung und Frauenberuf. Diskurs um Gesundheit, hygienische Familie und Frauenrolle im Spiegel der Familienzeitschrift Die Gartenlaube in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main [u.a.] 2008.
Lynn K. Nyhart: Modern Nature. The Rise of the Biological Perspective in Germany, Chicago/London 2009.
Steven Shapin: "The Invisible Technician", in: American Scientist, Bd. 77 (1989), S. 554–563.
Claudia Stockinger: An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt „Die Gartenlaube“, Göttingen 2018.
Julia Voss: "Zoologische Gärten, Tiermaler und die Wissenschaft vom Tier im 19. Jahrhundert", in: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie, Bd. 11, Berlin 2005, S. 227–243.
Quellen
Paul Matschie: "Die Haussa-Schafe im Berliner Zoologischen Garten", in: Die Gartenlaube, Heft 22 (1896), S. 372. URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Haussa-Schafe_im_Berliner_Zoologisch… (letzter Zugriff: 09.10.2023).
Paul Matschie: "Der kleinste von der Lemurengruppe", in: Die Gartenlaube, Heft 4 (1897), S. 68. URL: https://de.wikisource.org/wiki/Der_kleinste_von_der_Lemurengruppe (letzter Zugriff: 09.10.2023).
Paul Matschie: "Die Tiger des Berliner Zoologischen Gartens", in: Die Gartenlaube, Heft 26 1897, S. 447-448. URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Tiger_des_Berliner_Zoologischen_Gart… (letzter Zugriff: 09.10.2023).
Bildunterschriften
- Abb. 1: Archivansicht Antilopenzeichnungen von Anna Held, ca. 1900, 20 x 24,5 cm, MfN, HBSB, ZM B VIII/453, © Carola Radke, MfN.
- Abb. 2: Mendesantilope Addax nasomaculatus im Tierhaus des Zoos, Aquarellzeichnung, Anna Held, ca. 1900, 20 x 24,5 cm, MfN, HBSB, ZM B VIII/453, © Carola Radke, MfN.
- Abb. 3: Bilddetail: Signatur "AH" von Anna Held, Mendesantilope Addax nasomaculatus im Tierhaus des Zoos, Aquarellzeichnung, Anna Held, ca. 1900, MfN, HBSB, ZM B VIII/453, © Carola Radke, MfN.