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Pia Nitzschke: Die Muschelsucherin

Pia Nitzschke

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Journal für Natur (Ausgabe 3/2020).

Pia Nitschke dringt in die Tiefen der Molluskensammlung des Museums für Naturkunde Berlin vor und macht Muschel- und Schneckenfunde aus zwei Jahrhunderten für die Forschung zugänglich. Sie ist eine von neun jungen Frauen und Männern, die ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr dem Museum für Naturkunde Berlin widmen.

Plötzlich war sie von Muscheln umgeben. Und von Schnecken. Von Schildfüßern, Einschalern, Felsenbohrern und Dreikantmuscheln, Kahnfüßern und Wurmmollusken. "Mir war überhaupt nicht klar, dass es eine solche Vielfalt gibt", sagt Pia Nitschke. Sie läuft durch die Gänge der Molluskensammlung des Museums für Naturkunde Berlin, vorbei an alten Schränken, in denen Weichtiere liegen, die Forschungsreisende in über zwei Jahrhunderten zusammengetragen haben – einsortiert in mehr als einer Viertelmillion Schachteln. Das, was an ihnen einmal weich war, hat sich längst im Kreislauf der Stoffe aufgelöst und wurde zu neuem Leben geformt. Übrig geblieben sind Schalen und Gehäuse, manche davon äußerst eindrucksvoll, wie zum Beispiel Tridacna, die riesige "Mördermuschel" von den Philippinen, berühmt, weil von ihr fälschlicherweise behauptet wird, sie habe schon Taucher am Meeresgrund gehalten und deren gewellte Schale vier oder fünf Ellenbogen misst. Oder Syrinx aruanus, die Große Rüsselschnecke mit elegant gewundenem Gehäuse, 75 Zentimeter lang, eine der größten Meeresschnecken überhaupt. Andere hingegen sind unfassbar winzig oder nichtssagend – zumindest äußerlich. "Und wenn man sie dann öffnet, sind sie auf einmal wunderschön lila gefärbt", sagt Pia. Ihre Augen glänzen hinter einer Goldrandbrille im Retrolook und unter ihrem Mundschutz, der mit türkis gefärbten Hirschkäfern, Libellen und Ameisen bedruckt ist, zeichnet sich ein Lächeln ab. Die 19-Jährige hat im September ihr Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) am Museum für Naturkunde Berlin begonnen und unternimmt seither fast jeden Tag Expeditionsreisen in die weit verästelten Zweige des Tierstamms der Mollusken.

Sie öffnet die schwere dunkle Holztür von Schrank 32 und zieht eine Schublade heraus. Fast handtellergroße, hellbraune Gehäuse von Afrikanischen Riesenschnecken liegen nebeneinander in flachen Pappschachteln. Immer, wenn sie eine Schublade zum ersten Mal öffne, gebe es diesen kurzen Überraschungsmoment. Welche Formen und Farben hat sich die Natur jetzt wieder ausgedacht? Um was für Arten handelt es sich diesmal? Woher stammen sie und wer hat sie wann gefunden? "Manchmal liegen die Objekte in Zigarrenschachteln von 1918 und seitdem war niemand mehr dran", sagt Pia. "Oder das Tier wurde vor 200 Jahren bei einer berühmten Expedition gefunden. Es dann zum ersten Mal wieder in den Händen zu halten, ist schon ein tolles Gefühl!"

Pia Nitzschke

Als Pia Nitschke nach dem Abitur beschloss, erst mal ein FÖJ zu absolvieren, war für sie sofort klar: Es musste am Museum für Naturkunde Berlin sein! Schon als Kind war sie mit der Oma und den Eltern häufig hier unterwegs, vor allem die Dinosaurier beeindruckten sie, die uralten Zähne und Knochen. Dass so etwas mal auf der Erde gelebt haben soll! Im Urlaub sammelte sie Muscheln am Strand und Fossilien im Wald – oder zumindest das, was sie dafür hielt. "Mein erster Berufswunsch war dann auch Dinosaurierforscherin", sagt sie. "Dass ich jetzt hier am Museum arbeite und hinter die Kulissen schauen kann, ist für mich wie ein Traum, der Wirklichkeit wird."

Schon die erste Führung, die sie mitmachte, um das Haus kennenzulernen, führte durch endlose Gänge und hinter verschlossene Türen, tief in die wissenschaftlichen Sammlungen, die normalerweise nur Fachleute betreten. "Ich war total überwältigt, was hier alles rumliegt, allein im Vogelsaal habe ich tausende Präparate gesehen, die noch nie in der Ausstellung waren." Ihre erste Station war die paläontologische Sammlung. Dort fotografierte sie urzeitliche Knochen und half, die Kisten einer längst vergessenen Expedition auszuräumen. "Wir haben Versteinerungen und riesige Hirnkorallen ausgepackt, es war total spannend", erzählt sie.

Auch ihr zweiter Arbeitsplatz, die Molluskensammlung, stellte sich als wahres Kuriositätenkabinett heraus. Sammlungspflegerin Christine Zorn führte sie herum und präsentierte ihr einen goldbraunen Handschuh aus Muschelseide, der aus den Haftfäden der Großen Stechmuschel gesponnen wurde und 1822 vom Bischof von Tarent als Geschenk an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. nach Berlin kam. Und sie zeigte ihr viele weitere Kunstgriffe der Evolution, etwa die Lastenträgerschnecke, die Häuser anderer Schnecken, Muschelschalen, Korallen oder auch Cola-Deckel am Meeresboden einsammelt und an ihrem eigenen Gehäuse anbringt, als wolle sie sich mit ihnen schmücken, was vermutlich aber eine Strategie zur Tarnung ist. Am meisten beeindruckte Pia das in Alkohol schwimmende Auge eines Riesenkalmars, Architeuthis martensi, groß wie ein Kohlkopf. Das Tier maß vier Meter und wurde 1873 in Japan aus einem Fischernetz gezogen. Auch Kalmare, die bis zu 18 Meter groß werden können, gehören in die Molluskensammlung. Sie zählen zu den Tintenfischen, die wiederum Kopffüßer und damit wie Schnecken und Muscheln Weichtiere sind. Am Museum lagern sie mit ihren Verwandten allerdings in der Nasssammlung – mit Alkohol abgefüllt in rund 20.000 Gläsern.

An ihrem Arbeitsplatz, in einem geräumigen Nebenraum der Molluskensammlung, digitalisiert Pia die Schalen und Gehäuse ihrer Schützlinge. Jedes einzelne Tierchen bekommt einen QR-Code, damit Forschende später alle Informationen zu Art, Fundort und Sammler schnell und digital abrufen können. Bisher standen solche Angaben nur auf vergilbten Karteikarten und alten Etiketten. "Manche Fundorte haben Namen, die heute nicht mehr gebräuchlich sind, dann recherchiere ich detektivisch, was wohl gemeint sein könnte", erzählt Pia. Manchmal war es dann eine kleine Insel in der Südsee, die niemand mehr kennt. Auch Fotos nimmt sie von den Funden auf und verknüpft diese mit dem Datensatz.

Pia Nitzschke

Wie Pia Nitschke leisten insgesamt neun junge Erwachsene ihr FÖJ am Museum, vermittelt vom Verband junger Freiwilliger in Berlin. Lucie Rentsch zum Beispiel, die in der Sammlung der Schmetterlinge und Köcherfliegen alte Funde bestimmt und die Sammlung pflegt, zu der so prächtige Exemplare wie der tropische Blaue Morphofalter gehören. Im Labor entnimmt sie auch Proben von weniger erhabenen Motten für DNA-Analysen, damit die Forschenden etwas über die Artenvielfalt auf den Philippinen aussagen können. Oder Tobias Lüder, der vor seinem FÖJ einige Semester Geografie studiert hat und nun dabei hilft, Deutschlands größte Vogelsammlung zu digitalisieren. Auch er ist seit seiner Kindheit ein Fan naturkundlicher Museen und will ausloten, ob aus der Begeisterung ein Beruf werden könnte. In den letzten 20 Jahren haben so etwa 100 junge Menschen das Innerste des Museums kennengelernt.

Pia Nitschke hat ihren ursprünglichen Berufswunsch nicht aus den Augen verloren, die Geschichten hin- ter den alten Knochen und Zähnen lassen sie bis heute nicht los. Ihre Zeit am Museum will sie nutzen, um herauszufinden, was sie auch in zehn Jahren noch interessieren könnte. "Mir ist erst hier bewusst geworden, dass man alte Sachen auch erforschen kann, um Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen, etwa zu Klimawandel oder Umweltverschmutzung", sagt sie. Neu war ihr auch, dass Forschende sich auf bestimmte Schneckenarten spezialisieren, um mit ihrem Wissen dann einen Wirkstoff zu entwickeln, der kranken Menschen helfen kann. Vielleicht wird es ein Biologiestudium? Vielleicht auch nicht. Mit ihrer Arbeit in der Molluskensammlung sorgt Pia zunächst einmal dafür, dass Forschende finden, was sie brauchen, um solche Fragen zu beantworten. "Ich mache die Sammlung quasi für gute Zwecke nutzbar", sagt sie und setzt ihre Expeditionsreise durch die Welt der Weichtiere fort.

FÖJ Museum für Naturkunde Berlin

Text: Mirco Lomoth
Fotos: Pablo Castagnola