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Virtueller Zugang zu Fossil- und Archivmaterial der deutschen Tendaguru-Expedition (1909-1913)

Dysalotosaurus lettowvorbecki skeleton in exhibition

Die umfangreiche, weltweit relevante Forschungssammlung des MfN kann als ein Archiv des Wissens zur Beantwortung von Fragen nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezeichnet werden. Zugleich ist die Geschichte der Forschungseinrichtung und der Sammlung aber auch untrennbar mit der Geschichte des Kolonialismus verbunden. Das Projekt "Forschung und Verantwortung: Virtueller Zugang zu integriertem Fossil- und Archivmaterial der deutschen Tendaguru-Expedition (1909-1913)" ist Teil der Bestrebungen des Museums, Transparenz und Zugänglichkeit zu Sammlungen aus kolonialen Kontexten zu erreichen und internationale Kooperationen mit Partnern in den Herkunftsregionen der Objekte zu entwickeln.

Die Sammlung fossiler Wirbeltiere und das dazugehörige Schriftgut und Fotomaterial, die das Museum für Naturkunde Berlin (MfN) von der Deutschen Tendaguru-Expedition (GTE) (1909-1913) beherbergt, kann gleichermaßen als Teil des Weltkultur- und Naturerbes angesehen werden. Den Kern der Sammlung bilden die 225 Tonnen an Dinosauriermaterial, die etwa 5000 Einzelknochen sowie 5 Skelettmontagen verschiedener Dinosaurier umfassen. Diese Fossilien wurde in einem Gebiet ausgegraben, welches sich über rund 80 Quadratkilometer rund um den Tendaguru erstreckt, einen charakteristischen Hügel in der Nähe der Küstenstadt Lindi im Süden Tansanias. Die fossilführenden Schichten der so genannten Tendaguru-Formation werden auf den späten Jura (Kimmeridgium-Tithonium) datiert und sind somit zwischen 157 und 145 MA alt. Das Material des GTE im MfN umfasst neben den Fossilien selbst eine umfangreiche Dokumentation der unter kolonialen Bedingungen durchgeführten Ausgrabungen sowie damit zusammenhängende Dokumentationen aus späteren Perioden in Deutschland. Die archivierten Fotografien, Korrespondenzen, Verwaltungsakten, Rechnungsbücher, Tagebücher, Zeichnungen u.ä. werden in den Historischen Bild- und Schriftgutsammlungen Berlin (HBSB) aufbewahrt und sind eine unverzichtbare Quelle für die multidisziplinäre Forschung.

Was die Fossilien von Tendaguru zu besonders faszinierenden und komplexen Objekten macht, ist nicht nur ihre herausragende paläontologische, sondern auch ihre historische Bedeutung. Sie wurden zwischen 1909 und 1913 in der damaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika, einer Region im heutigen Tansania, ausgegraben. In dieser Hinsicht sind die Fossilien aus Tendaguru paradigmatische koloniale Objekte, die den oftmals gewaltsamen Extraktivismus der kolonialen Sammelpraxis belegen. Seit einigen Jahrzehnten sind die Fossilien von Tendaguru nicht nur Teil von Restitutionsforderungen tansanischer Forscher, Politiker und der Öffentlichkeit, sondern stehen auch im Zentrum kritischer Debatten und Untersuchungen zur Kolonialgeschichte naturhistorischer Sammlungen, der Wissenschaft und der Museen. Unser Ziel ist es, eine digitale Sammlung zu schaffen, die für Wissenschaftler weltweit zugänglich ist und den FAIR-Datenprinzipien der Expertengruppe der Europäischen Kommission für FAIR-Datenprinzipien entspricht. Die weltweite Verfügbarkeit der Daten kann somit als Ressource für verschiedene Gemeinschaften in vielen Ländern dienen, um ihre eigenen Forschungsansätze zu entwickeln oder die Daten zu unterschiedlichen, öffentlichkeitswirksamen Zwecken zu nutzen. Darüber hinaus können durch den Zugang zu diesem Sammlungsmaterial Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerinnen in ihrer Forschung unterstützt und die Chancengleichheit in der wissenschaftlichen Forschung gefördert werden.

Projektziele

Der umstrittenen Vergangenheit der Tendaguru-Sammlung, aber auch ihrer hohen Popularität und der großen Bedeutung für die Natur- und Geisteswissenschaften, steht die Tatsache gegenüber, dass die Aufarbeitung aller Materialien der gesamten Tendaruru-Expedition bisher nur rudimentär erfolgte und primär von wissenschaftlichen Einzelinteressen geleitet wurde. Der derzeitige lückenhafte Stand der Digitalisierung der paläontologischen und historischen Tendaguru-Materialien wird der herausragenden Bedeutung der Sammlungen für die natur- und sozialwissenschaftliche Forschung, die sich zunehmend auf umfassende digitale Ressourcen stützt, nicht gerecht. Übergeordnetes Ziel dieses und zukünftiger Projekte ist es, die Sammlung durch die Zusammenführung aller digitalen Inhalte (objektbezogene digitale Modelle, Daten, Bilder und Dokumente, Archivalien, Ergebnisse, Publikationen)  in einer Datenplattform global und interdisziplinär zugänglich zu machen, sie objektgruppenübergreifend gemeinsam recherchierbar und zielgruppenspezifisch nutzbar zu machen und eine Verknüpfung sowie einen Export der Daten in andere spezifische Datenbanken zu ermöglichen. Im Rahmen dieses Projektes werden Arbeitsabläufe und Modelle für geeignete Methoden der 3D-Digitalisierung größerer Sammlungen fossiler Wirbeltiere erarbeitet und Verfahren zur Integration und digitalen Bereitstellung von Forschungsobjekten aus kolonialen Kontexten bewertet. Das Pilotprojekt wird als erster Teil einer umfassenden Sammlungserschließung dienen und sich auf Material des ikonischen Sauropoden Giraffatitan brancai und des kleinen Ornithopoden Dysalotosaurus lettowvorbecki konzentrieren, das etwas mehr als 1100 Knochen umfasst.

Giraffatitan brancai (Bild unten) ist der populärste Dinosaurier der Tendaguru-Expedition, und sein Skelett bildet das Zentrum der großen Dinosaurier-Ausstellung im MfN. Giraffatitan gehört zu den Sauropoden, den größten landlebenden Wirbeltieren überhaupt. Es war ein ca. 23 m langer und mehr als 13 m hoher pflanzenfressender Dinosaurier mit einem bemerkenswert langen Hals und einem kleinen Kopf, säulenförmigen Gliedmaßen und einem Gewicht von bis zu 38 Tonnen. Dysalotosaurus lettowvorbecki (Bild oben) ist der kleinste Dinosaurier aus der Region Tendaguru. Es handelte sich um einen kleinen, pflanzenfressenden, zweibeinigen Vogelbecken-Dinosaurier, dessen versteinerte Knochen in großen Mengen im Tendaguru-Gebiet gefunden wurden. Dieser Dinosaurier ist auch historisch bedeutsam, da sich die Kolonialgeschichte im Namen dieser Art verewigt hat. Die Art wurde nach Generalmajor Paul von Lettow-Vorbeck benannt, dem Befehlshaber der deutschen Kolonialarmee in Deutsch-Ostafrika während des Ersten Weltkriegs. Die grausame und unmenschliche Kriegsführung unter seinem Kommando forderte viele afrikanische Opfer. Nach dem Ersten Weltkrieg forderte Lettow-Vorbeck die Rückgabe der deutschen Kolonien.
 

Giraffatitan brancai

Zwei Hauptziele bilden die Grundlage des Projekts:

I. Anwendung verschiedener Methoden zur Erfassung von 3D-Oberflächenmodellen von Dinosauriern des GTE und Erarbeitung einheitlicher Qualitätskriterien für die 3D-Digitalisierung, Entwicklung eines Arbeitsablaufs von der Digitalisierung bis zur Datenerfassung

Es soll ein Arbeitsablauf für die Erfassung von 3D-Geometrien von verschiedenen fossilen Digitalisierungsobjekten (die sich in Bezug auf Größe, Oberflächenkomplexität und Farbe unterscheiden) entwickelt werden, wobei das Ziel darin besteht, qualitativ hochwertige 3D-Modelle von jedem Exemplar zu erstellen. Für die 3D-Digitalisierung wird eine Reihe verschiedener Techniken eingesetzt, insbesondere Photogrammetrie und Oberflächen-Laserscanning für Objekte, die größer als 10 cm sind. Proben, die kleiner als 10 cm sind, werden mit Makrofotografie und Focus Stacking digitalisiert, um die Eignung dieser Methode im Hinblick auf die Qualität der erstellten Netze zu testen. Alle digitalen Objekte, die aus einer dieser Techniken stammen, werden im Hinblick auf die allgemeinen Qualitätskriterien für 3D-Modelle bewertet. Der Arbeitsablauf umfasst auch die Schritte von der Erzeugung der 3D-Modelle bis zu ihrer Speicherung in der jeweiligen Datenbank. Die erzeugten 3D-Modelle werden in ein digital specimen network(DOI: 10.1093/biosci/biac060) des entsprechenden physischen Objekts aufgenommen und müssen auf Langzeitspeicherung und benutzerfreundliche Formate geprüft werden.

II. Datentransfer und Zugänglichkeit - Verknüpfung historischer Dokumente mit Fossilien in einem Datenportal

Das Projekt zielt darauf ab, Konzepte, Modelle und Arbeitsabläufe zu entwickeln, um die historischen Dokumente mit den fossilen Objekten und deren digitaler Darstellung zu verknüpfen. Zu diesem Zweck ist eine digitale Erschließung von Archivdaten zu Giraffatitan und Dysalotosaurus erforderlich. Die beste Forschungsumgebung dafür wird in diesem Bereich bewertet. Diese Forschungsumgebung sollte es ermöglichen, alle verfügbaren Informationen über die DTE anzuzeigen und dadurch einen kausalen Zusammenhang zwischen diesen Informationen herzustellen, sowie die Daten für verschiedene Gemeinschaften zugänglich zu machen und einen einfachen Zugang zu allen Arten von Daten zu schaffen. Hierbei ist es sinnvoll, an die aktuellen Debatten über koloniale Museumsobjekte anzuknüpfen, indem grundlegende Fragen zu ihrer Zugänglichkeit beantwortet werden, wie z. B. die verwendete Sprache, die Integration lokaler Perspektiven und Epistemologien, die Hierarchisierung des Wissens und die Übersetzung in nicht-europäische Sprachen.
 

page from sketch book of Tendaguru expedition
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