Forschenden vom Museum für Naturkunde Berlin gelangen in Norddeutschland seltene Beobachtungen vom Beutefangverhalten der Wanderratte (Rattus norvegicus). Am Segeberger Kalkberg mit vielen Tausend überwinternden Fledermäusen konnte mit Hilfe von Infrarot-Videokameras beobachtet werden, wie Wanderratten in der Schwärmphase der Fledermäuse Jagd auf die nachtaktiven Säugetiere machen. Auch am Lüneburger Kalkberg mit seiner ebenfalls erheblichen Fledermauspopulation konnten Hinweise auf Wanderratten als Beutegreifer von Fledermäusen gefunden werden.
„Unsere Beobachtungen zeigen zum einen, wie anpassungsfähig und geschickt sich Wanderratten in städtischen Ökosystemen Nahrungsquellen erschließen und weisen gleichzeitig auch auf ein Artenschutzproblem durch invasive Tierarten hin. Unseres Wissens ist derartiges Verhalten von Wanderratten noch nicht wissenschaftlich dokumentiert worden“, sagt Florian Gloza-Rausch, Gastwissenschaftler am Museum für Naturkunde Berlin und Erstautor der Studie. Seit langem ist bekannt, dass invasive Nagetiere für erhebliche Verluste an biologischer Vielfalt auf Inseln verantwortlich sind und den Rückgang oder sogar das Aussterben endemischer Arten herbeiführen können.
Die Fledermauspopulationen in den innerstädtischen Großwinterquartieren von Bad Segeberg und Lüneburg sind durch die fortschreitende Urbanisierung, Straßenbau und Lichtverschmutzung im Umfeld der Kalkberge zunehmend gefährdet, da es für die aus großer Entfernung anwandernden nachtaktiven Säugetiere immer schwieriger wird, ihre Winterquartiere zu erreichen. Regelmäßige Beutezüge durch Wanderratten können unter Umständen ebenfalls zu populationsrelevanten Verlusten führen, wie in der Studie durch Berechnungen zu möglichen Beutefangszenarien gezeigt werden konnte. Dies kann eine ernst zu nehmende Herausforderung für den Artenschutz darstellen.
Neben der naturschutzfachlichen Relevanz liefert die Studie auch einen wichtigen Beitrag für das Verständnis von komplexen Wechselwirkungen zwischen Tierpopulationen. Fledermäuse und Nagetiere gelten als Reservoirs für eine Vielzahl zoonotischer Krankheitserreger. Die Beobachtung, dass Wanderratten systematisch Fledermäuse erbeuten, liefert seltene Hinweise auf direkten Kontakt zwischen zwei bedeutenden Wildtierreservoirs in einer städtischen Umgebung und weist auf eine potenzielle Schnittstelle für den Austausch von Krankheitserregern hin. Die Studie betont ausdrücklich, dass die Ergebnisse kein unmittelbares zoonotisches Risiko anzeigen, sondern vielmehr einen Mechanismus aufzeigen, durch den invasive Nagetierpopulationen zur Verstärkung und Umverteilung von Krankheitserregern in städtischen Ökosystemen beitragen könnten. „Eine gezielte Bekämpfung von Wanderratten an wichtigen Fledermaus-Winterquartieren würde sowohl gefährdete Fledermauspopulationen schützen als auch potenzielle Risiken für die öffentliche Gesundheit verringern“, hebt Mirjam Knörnschild vom Museum für Naturkunde Berlin und Co-Autorin der Studie, in diesem Zusammenhang hervor. Ein wichtiger Baustein zur Dezimierung von Rattenpopulationen im städtischen Umfeld ist ein effektives Abfallmanagement und die Bekämpfung von Rattenpopulationen im Abwassersystem.