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Von der Kette zum Kreis

Zwei identische Blätter der Grafik Tabula affinitatum Mammalium

Anne MacKinney

Im Zentrum steht der Mensch, "Homo". Er bildet den Ankerpunkt der Tabula affinitatum Mammalium, einer Säugetiertafel, welche der Professor der Zoologie Martin Hinrich Lichtenstein (1780–1857) im Wintersemester 1834 für seine Vorlesung an der Berliner Universität anfertigte. Ausgehend vom Menschen im innersten Kreis der Darstellung versammeln sich auf dem Schema diverse Primaten. Ihnen nähern sich im nächsten Kreis Beuteltiere an, denen ihrerseits Erdferkel und Gürteltiere benachbart sind. Am äußeren Rand kreisen Nagetiere, Huftiere, Meeressäuger, Raubtiere und Fledermäuse. Zwischen den Säugern fließen gebogene Linien, die Grenzen, aber auch Brücken erzeugen: Die Gleithörnchen und Gleitbeutler stehen etwa den Flughunden nahe, so wie die nachtaktiven Schlafmäuse den nachtaktiven Aye-Ayes. Einzelne Eigenschaften und nicht nur die taxonomische Zugehörigkeit begründen die Anordnung der Gattungen im Kreisdiagramm. 

Der hier beschriebene Druck findet sich unter den Verwaltungspapieren Lichtensteins, einer der ersten Professoren der 1810 gegründeten Berliner Universität und früher Direktor des Zoologischen Museums. Er wird heute in zweifacher Ausführung in der Historischen Arbeitsstelle des Berliner Museums für Naturkunde aufbewahrt. In einer Archivmappe, die mit Rechnungen, Belegen, Berichten, Dienstanweisungen und Verzeichnissen gefüllt ist, fallen die beiden Blätter als einzige Bilder auf. Sie sind zudem seltene Belege der Lehrtätigkeit Lichtensteins.

Die Tafel ist als Ausdruck einer Überforderung von der Vielfalt der Natur und zugleich als Streben nach einer übersichtlichen Ordnung zu interpretieren. Schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts zerfiel das herkömmliche Bild einer linearen Verkettung der Natur – der scala naturae. Sie war zu facettenreich geworden: Um 1740 zählte der Systematiker Carl von Linné (1741–1783) bereits 600 Tierarten, hundert Jahre später schätzten Naturforscher allein die Säugetiere auf 2.000, Insekten sogar auf 44.000 Arten. Um die komplexen Verbindungen zwischen den Arten zu erfassen, bedienten sich Forscher im 18. Jahrhundert zunehmend dem Bild eines Netzes. Diese Versuche endeten oft in einem unüberschaubaren Gewirr von verknoteten Fäden, die nahezu unlesbar waren.

Als Direktor eines sich rasch ausdehnenden zoologischen Museums spürte auch Lichtenstein den Druck einer kaum zu überblickenden, 'chaotischen' Natur. Mit seinem eleganten, nahezu symmetrischen Kreisbild, das dem Menschen den Schein einer alles ordnenden Machtinstanz verleiht, versuchte er die Naturfülle zu bändigen. Das gelang ihm nur kurz. Wenige Jahre nach Entstehung dieses Bildes – Tiernamen und -exemplare nahmen währenddessen unaufhaltsam zu – schrieb Lichtenstein in geschlagenem Ton: "[...] die neue Zeit wächst einem über den Kopf und [...] so fühlt man doch, dass man nicht mehr fortkommen kann und kommt sich oft in der neuen kauderwälschen Systematik und Nomenklatur recht dumm und unwissend vor, wenigstens zu schwach um gegen den Strom zu schwimmen."

Steckbrief

  • Titel: Druckgrafik Tabula affinitatum Mammalium 
  • Signatur: ZM S I Lichtenstein II Bl. 104
  • Provenienz: Königliches Zoologisches Museum der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin
  • Material: Papier, Tinte, Druck 
  • UrherberIn: Entwurf Prof. Dr. Martin Hinrich Lichtenstein (1780–1857), Druck durch Anonym
  • Zeit der Entstehung: um 1834
  • Ort der Entstehung: Berlin, Königreich Preußen 
  • Verschlagwortung: scala naturae, Netz, natürliche Affinitäten, Taxonomie, Systematik, Zoologie, Säugetiere

Literatur

  • James Larson: Interpreting Nature. The Science of Living Form from Linnaeus to Kant, Baltimore/London 1994.
  • Kees van Putten: "Three Eighteenth-Century Attempts to Map the Natural Order: Johann Herrmann – Georg Christoph Würtz – Paul Dietrich Giseke", in: Early Science and Medicine, Jg. 24 (2019), H. 1, S. 33–89, DOI 10.1163/15733823-00241P02 (letzter Zugriff: 19.10.2020).
  • Erwin Stresemann: "Die Entwicklung der Vogelsammlung des Berliner Museums unter Illiger und Lichtenstein", in: Journal für Ornithologie, Jg. 70 (1922), H. 4, S. 498–503. 

Quellen

  • Karl Ernst von Baer: "Blicke auf die Entwickelung der Wissenschaft. Vortrag in der öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg am 29. Dec. 1835", in: Reden gehalten in wissenschaftlichen Versammlungen und kleinere Aufsätze vermischten Inhalts. Erster Theil: Reden, St. Petersburg 1864, S. 76–160, Digitalisat in der Bayerischen Staatsbibliothek digital (letzter Zugriff: 19.10.2020).
  • A[ugust] J[ohann] G[eorg] C[arl] Batsch: Tabula affinitatum regni vegetabilis, quam delineavit, et nunc ulterius adumbratum, Vinaria [Weimar] 1802, DOI 10.5962/bhl.title.7569 (letzter Zugriff: 19.10.2020).
  • Johann Herrmann: Affinitatum animalium tabulam brevi commentario illustratam praeside Johanne Herrmanno &c in alma Argentoratensium Universitate Academicis exercitationibus ventilandam &c proponit Georg, Argentoratum [Strasbourg] 1777, Digitalisat im Katalog der Wellcome Collection (letzter Zugriff: 19.10.2020).
  • Johann Herrmann: Tabula affinitatum animalium olim academico specimine edita: nunc uberiore commentario illustrate cum annotationibus ad historiam naturalem animalium augendam facientibus, Argentoratum [Strasbourg] 1783, DOI 10.5962/bhl.title.58872 (letzter Zugriff: 19.10.2020).  

Bildunterschrift

  • Tabula affinitatum mammalium, Druck, Entwurf von Martin Hinrich Lichtenstein, Druck durch Anonym, um 1834, 42 x 33 cm, HBSB, Zool. Mus., S I Lichtenstein II, Bl. 104, © Carola Radke, MfN.