Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Journal für Natur (Ausgabe 4/2020).
Wer kann Sütterlin lesen und Handschriften entziffern? Engagierte Bürger und Bürgerinnen helfen, die Geschichten aus dem Archiv des Museums für alle zugänglich zu machen.
Wer an das Berliner Naturkundemuseum denkt, dem fallen sicherlich erst einmal die Dinosaurier, Eisbär Knut, der gerade nach Kopenhagen verreiste T. rex Tristan Otto und die Millionen Tiere, Fossilien, Mineralien und Gesteine ein. Zu den Schätzen gehört aber auch etwas, was viele hier gar nicht vermuten: ein gewaltiges Archiv mit mehr als 90.000 Akten und etwa 20.000 Bildern aus über 200 Jahren musealer und Wissenschaftsgeschichte, die Historische Arbeitsstelle. Dort finden sich Briefe von Alexander von Humboldt, der Nachlass von Karl August Möbius, erster Direktor des Museums in der Invalidenstraße, die Fotografien der ersten großen deutschen Tiefseeexpedition Ende des 19. Jahrhunderts mit der Valdivia und vieles mehr. Höchst interessantes Material, insbesondere für historische Forschungsprojekte, die sich mit naturkundlichen Themen des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts beschäftigen.
Aber es gibt ein Problem: die Lesbarkeit. Die Dokumente sind handschriftlich verfasst, in der damaligen Schrift, beispielsweise Sütterlin oder Kurrent. Das kann nicht jede:r lesen. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die an solchen alten Dokumenten und ihrer Entzifferung interessiert sind und diese Schriften noch in der Schule oder im Rahmen ihrer beruflichen Ausbildung gelernt haben, sie sich aus Interesse angeeignet haben oder sie schlicht gern lernen möchten.
Die Transkriptionswerkstatt des Museums bringt beide Seiten zusammen. Handschriftliche Dokumente in Sütterlin oder Kurrent werden von den Teilnehmenden in moderne Schrift übertragen. Neben den handschriftlichen Originalen entstehen so digitale Versionen. Die späteren Nutzenden müssen diese Handschriften dann nicht mehr selbst entziffern.
"Das hilft uns beispielsweise im sogenannten Kunstkammerprojekt", erläutert Diana Stört, promovierte Literatur- und Kulturhistorikerin am Museum. Dieses Forschungsprojekt, ein Gemeinschaftsprojekt mit der Humboldt-Universität zu Berlin und den Staatlichen Museen zu Berlin, widmet sich den in der Brandenburgisch-Preußischen Kunstkammer gesammelten Naturalien, Kunstgegenständen und wissenschaftlichen Instrumenten. Diese gehören heute zu den ältesten überlieferten Objekten der Berliner Museen. "Uns interessieren die Biografien der Kunstkammerobjekte, und hier ist die Historische Arbeitsstelle mit ihren Dokumenten eine zentrale Informationsquelle."
Für Sandra Miehlbradt, die Archivarin der Historischen Arbeitsstelle, ist die Transkriptionswerkstatt aber auch wichtig für die tiefere Erschließung der Bestände ihres Archivs, über die reine Inventarisierung der Akten als Ganzes hinaus. "Es geht um die Erfassung und Erschließung der einzelnen Archivalien in den Akten. Das war bisher einfach personell gar nicht möglich." Die Transkriptionswerkstatt helfe, einen tieferen Zugang zu den Beständen zu schaffen. "Es wird zunehmend möglich, in den Unterlagen gezielt nach einzelnen Objekten, Sammelnden und Orten zu suchen."
Hierbei spielt auch die Forschungsplattform eine Rolle, die im Rahmen des Kunstkammerprojektes entsteht. Sie enthält alle transkribierten Dokumente, die im Projekt benutzt wurden. Es ist geplant, die Plattform Ende des Jahres freizuschalten, sie wird dann für alle öffentlich zugänglich sein. Einen ersten Eindruck kann man sich heute schon unter berlinerkunstkammer.de verschaffen. "Diese Forschungsplattform ist gewissermaßen eine Testversion für die spätere Datenbank mit allen Dokumenten, die in der Transkriptionswerkstatt entstehen", erläutert Sandra Miehlbradt. Auch diese Datenbank wird frei zugänglich sein.
Womit wir bei den Zukunftsplänen wären. Die Idee der Beteiligten ist es, aus der Transkriptionswerkstatt ein ganzes Zentrum zu entwickeln, welches die Bestände der Historischen Arbeitsstelle in viel größerem Umfang erschließt und auf eine internationale Beteiligung setzt. Das passt zu den Bestrebungen des Museums, seine Bestände im Rahmen des Zukunftsplans bis zum Jahr 2030 vollständig erschlossen zu haben und sie der Allgemeinheit über ein frei zugängliches Internetportal zur Verfügung zu stellen. Ob bis 2030 alle Unterlagen des Archivs online recherchierbar und auch transkribiert sein werden, hängt davon ab, wie groß die öffentliche Beteiligung an der Transkriptionsarbeit sein wird. Wird es gelingen, dass Engagierte über Sütterlin und Kurrent hinaus auch die weiteren Schriften und Sprachen transkribieren? In der Historischen Arbeitsstelle finden sich Dokumente unter anderem in Japanisch, Chinesisch, Dänisch, Schwedisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Englisch, Latein – um nur die wichtigsten zu nennen. Im Transkriptionszentrum soll neben der weltweiten Beteiligung engagierter Bürgerinnen und Bürger, den "Digital Transcriptionists for Nature", auch Künstliche Intelligenz eingesetzt werden.
"Im Transkriptionszentrum wird es auch wieder möglich sein, sich vor Ort persönlich auszutauschen. Die digitalen Möglichkeiten von virtuellen Treffen, die eine hohe Reichweite über Berlin hinaus ermöglichen, können weiterhin genutzt werden", sagt Wiebke Rössig, Leiterin des Experimentierfeldes. "Die Begegnungen vor Ort lassen den partizipativen Charakter des Projektes noch besser aufleuchten, als es digitale Treffen können."
Text: Andreas Kunkel
Fotos: Pablo Castagnola