Wie sieht ein Museum des Anthropozän aus? Wie würde es vom sogenannten Zeitalter des Menschen erzählen? Und wird irgendwann eigentlich alles sein wie Gras? Der literarische Audioguide des Museums für Naturkunde Berlin mit Texten von Daniel Falb, Monika Rinck und Judith Schalansky, gesprochen von Sandra Hüller, Dirk von Lowtzow und Christoph Müller lädt dazu ein, die Ausstellung ganz neu zu erkunden.
Neozoen, Algen, Polymere: Menschliche Aktivitäten verändern den Planeten tiefgreifend. Ihre Spuren lassen sich bis in die Sedimentschichten der Erde finden und sie haben eine Fülle neuer Wesen und Objekte hervorgebracht. Im sogenannten "Zeitalter des Menschen", dem Anthropozän, produzieren vor allem die Gesellschaften des Globalen Nordens eine gigantische Masse an Dingen, züchten eigene Tier- und Pflanzenarten und beuten natürliche Rohstoffe exzessiv aus. Der Begriff des Anthropozäns steht dafür, dass die zunehmend katastrophalen Konsequenzen des menschlichen Einflusses auf das Erdsystem ins gesellschaftliche und politische Bewusstsein treten. Blickt man mit diesem veränderten Bewusstsein auf Natur und natürliche Objekte, dann werden in ihnen die vielfältigen Geschichten sichtbar, die von der bereits lange andauernden und wechselhaften Beziehung zwischen Umwelt, menschlicher Ressourcennutzung und Technologien erzählen. An keinem Ort geht das besser, als in einem Naturkundemuseum.
Drei renommierte Schriftsteller:innen, Daniel Falb, Monika Rinck und Judith Schalansky, erkunden diese Geschichten und Zusammenhänge anhand der Räume und Objekte des Museums für Naturkunde Berlin. Von unterschiedlichen Standpunkten aus widmen sich die literarischen Texte der drei Autor:innen den Wechselwirkungen zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichen: mal kritisch, mal spielerisch, mal erzählend. Dabei rütteln sie an verschlossenen Türen, stoßen auf Feuerlöscher, Heizungsrohre und den sonst oft übersehenen Hintergrund, vor dem die Ausstellungsobjekte präsentiert werden. Sie laden zu Gedankenexperimenten jenseits des Menschen ein und ermöglichen einen Blick in die "tiefe Zukunft" menschlicher Gesellschaften im Anthropozän.
Gesprochen von der Oscar-nominierten Sandra Hüller, Christoph Müller (Schauspiel Leipzig) und Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow, und zu einer theatralen Komposition verbunden durch das FARN Kollektiv ist eine immersive klangliche Installation entstanden. Begleitet von Musik und Sound als vierter Stimme, lädt der Audioguide dazu ein, durch die Ausstellung zu spazieren und die dort ausgestellten Dinge vollkommen neu zu erleben: Dem Rauschen der Heizkörper zu lauschen, dem Chor der präparierten Tiere, den Geschichten hinter dem Gestein. Und angesichts jener tiefgreifenden Veränderung des Erdsystems durch menschliche Aktivitäten gemeinsam zu fragen: Was wollen wir in die Zukunft mitnehmen?
Eine Produktion des FARN Kollektiv und des Museum für Naturkunde Berlin.
Ab 10. April 2024 im Museum für Naturkunde Berlin hörbar.
Unser Tipp: Nutzen Sie für das Hörerlebnis im Museum die bestmöglichen Kopfhörer. Wir empfehlen, Kopfhörer mit In-Ear-Technologie und Noise Cancelling Funktion mitzubringen.
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Autor:innen
Daniel Falb ist Lyriker und Philosoph. Er lebt und arbeitet in Berlin, wo er Philosophie studierte und sich mit einer Arbeit zum Begriff der Kollektivität promovierte. Er veröffentlichte fünf Gedichtbände im Verlag kookbooks, zuletzt Deutschland. Ein Weltmärchen (in leichter Sprache) (2023). Falb arbeitet zugleich zur Geophilosophie, zur Theorie des Anthropozäns sowie zu Fragen von Poetik und Kunsttheorie. Nach Anthropozän. Dichtung in der Gegenwartsgeologie (Verlagshaus Berlin 2015) erschien im Frühjahr 2019 der Essay Geospekulationen. Metaphysik für die Erde im Anthropozän (Merve).
Monika Rinck wurde 1969 in Zweibrücken geboren. Sie studierte Religionswissenschaft, Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Bochum, an der FU Berlin und an der Yale University. Künstlerisch bewegt sie sich auf unterschiedlichsten Gebieten. Bereits während des Studiums entwickelte sie eine Vorliebe für interdisziplinäre und intermediale Grenzüberschreitungen. Sie veröffentlichte u.a. Alle Türen. Gedichte (2019), Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch (2019), Risiko und Idiotie. Streitschriften (2015), Honigprotokolle. Gedichte (2012). Seit April 2023 lehrt sie als Professorin für Literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln.
Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr Werk, darunter der international erfolgreiche Bestseller Atlas der abgelegenen Inseln (mare, 2009), der Bildungsroman Der Hals der Giraffe (Suhrkamp, 2011) sowie das Verzeichnis einiger Verluste (Suhrkamp, 2018) ist in mehr als 25 Sprachen übersetzt und wurde vielfach ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der "Naturkunden" sowie der Bibliothek "Wildes Wissen" im Verlag Matthes & Seitz Berlin und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin.
Produktion
Das 2016 gegründete Theaterkollektiv FARN Kollektiv besteht aus Sandra Hüller, Tom Schneider, Tobias Staab, Michael Graessner, Sandro Tajouri und Moritz Bossmann.
Theater wird hier als kollektive Praxis des Denkens und Handelns begriffen. Innerhalb des Kollektivs gibt es keine festgelegten Strukturen oder Hierarchien, keine präexistierenden Formen oder Ästhetiken, keine Sicherheiten und Wahrheiten, auf die man sich verlassen könnte oder wollte. Ihre Produktion "The Shape of Trouble to Come. Ein posthumanes Ritual" am Schauspiel Leipzig von 2021 widmete sich ausgehend von Texten Donna Haraways und anderer AutorInnen, in denen der Mensch und der Kapitalismus aus dem Zentrum des Denkens gerückt werden, an utopischen Erzählungen eines möglichen Morgen. Daran anknüpfend entwickelte das FARN Kollektiv bereits 2022 eine Performance zum Anthropozän in den Räumen des Museums für Naturkunde Berlin.
Quellen und Zitatnachweise
- Philip Ball: "The earth moves most for humans. Agriculture and excavations shape the landscape more than rivers and glaciers", in: Nature (2005), https://doi.org/10.1038/news050307-2.
- Emily Elhacham, L. Ben-Uri, J. Grozovski, et al. "Global human-made mass exceeds all living biomass", in: Nature 588 (2020), S. 442–444, https://doi.org/10.1038/s41586-020-3010-5.
- Food and Agriculture Organization of the United Nations: "What is happening to Agrobiodiversity?", 2004, https://www.fao.org/3/y5609e/y5609e02.htm.
- Darren Incorvaia. "These 8 GMOs tell a brief history of genetic modification". In: Science News, 23.10.2023, https://www.sciencenews.org/article/8-gmo-history-genetic-modification.
- Christoph Rosol, Benjamin Steininger, Jürgen Renn und Robert Schlögl, "Vom Computerzeitalter in der Epoche des Menschen", 30. November 2018, https://www.mpg.de/12545963/geo-anthropologie-digitale-transformation.
- John Maynard Smith und Eörs Szathmáry, Evolution: Prozesse, Mechanismen, Modelle, Spektrum Evolution, Heidelberg Berlin Oxford: Spektrum, Akad. Verl, 1996, S. 318.
- Robert Smithson und Jack Flam, Robert Smithson, the Collected Writings. Nachdr. The Documents of Twentieth Century Art. Berkeley: University of California Press, 2000, S. 101 u. 104.
- Will Steffen, Wendy Broadgate, Lisa Deutsch, Owen Gaffney und Cornelia Ludwig, "The Trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration", in: The Anthropocene Review 2 (1) 2015, S. 81–98, https://doi.org/10.1177/2053019614564785.
- Aubrey Streit Krug, Emily B. M. Drummond, David L. Van Tassel, Emily J. Warschefsky: "The next era of crop domestication starts now", in: Agricultural Sciences 120 (14) e2205769120, 2023 https://doi.org/10.1073/pnas.2205769120.
Bilder
- Autor:innen: Von links nach rechts: Daniel Falb, Monika Rinck, Judith Schalansky. © Silke Briel, Ute Rinck, René Fietzek.
- FARN Kollektiv: "The Shape of Trouble to Come", 2021, Schauspiel Leipzig. © Andreas Schlager