Bilder der Natur – Objektgeschichten aus den Bild- und Schriftgutsammlungen der Historischen Arbeitsstelle
Sophia Gräfe und Julia Bärnighausen, März 2024
Wissenschaftliche Bilder sind mehr als nur Abbildungen. Sie besitzen "Volumen, Opazität, Taktilität und eine physische Präsenz in der Welt" (Batchen 1997: 2). Als Bild-Objekte erfüllen sie eine Doppelfunktion: Einerseits visualisieren sie einen Gegenstand, andererseits sind sie selbst gegenständlich, dreidimensional und in der Regel für einen Gebrauch produziert. Sie erzählen Geschichten und besitzen gleichzeitig eine eigene Geschichte – eine Biografie im übertragenen Sinne. Diese Beobachtung steht im Zentrum der Publikationsreihe "Bilder der Natur". Sie erzählt Objektgeschichten aus den historischen Bildersammlungen des Museum für Naturkunde Berlin: Dabei ist nicht nur das auf den Bildern Gezeigte relevant. Auch der Weg der Bilder im Archiv und der Umgang mit diesen Bildern in der wissenschaftlichen Praxis sind Teil ihrer Historie.
Das Archiv des Museum für Naturkunde ist aus der ehemaligen Historischen Arbeitsstelle (HAS) hervorgegangen. Dessen Bestände wurden seit den 1960er Jahren durch die Biologin und Museologin Ilse Jahn (1922–2010) systematisiert. Grundlage für diese Arbeit bildeten erste Sortierungs- und Dokumentationsmaßnahmen von Walther Arndt (1891–1944) und Erwin Stresemann (1889–1972). Seit 1988 eine zentrale Museumseinrichtung, vereinte die Historische Arbeitsstelle Bild- und Schriftgut aus verschiedenen Institutionen und Epochen: Neben den Verwaltungsakten der Sammlungen der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (gegr. 1810), versammelte sie Nachlässe, Korrespondenzen, Forschungsunterlagen und mehr als 20.000 Bilder. In den vergangenen drei Jahrzehnten strukturierte die Kunsthistorikerin Sabine Hackethal diese Bildbestände in einem Karteisystem. Aquarelle, Ölgemälde und Druckgrafiken, aber auch fotografische Medien, Kleinplastiken, Modelle und Siegel, konfrontieren uns mit einer beinahe überwältigenden Materialvielfalt. Ziel der Publikationsreihe "Bilder der Natur" ist es, sich dieser Vielfalt anzunehmen und neue Bildergeschichten zu erzählen. In einer musealen Hierarchie sind es oft die historischen Archive, insbesondere Bildarchive, die aus dem Blick geraten. So ist diese Textreihe Beweis und Plädoyer in einem: Bilder sind nicht nur 'Flachware', die etwas Gezeigtes dokumentarisch und naturgetreu widerspiegeln, sondern menschengemachte Wissensobjekte, die eine kritische Auseinandersetzung mit historischen, wie aktuellen Praktiken des Wissens einfordern.
Die hier versammelten Beiträge veranschaulichen einmal mehr die Materialvielfalt naturkundlicher Bildwelten, ihre interdisziplinäre Verwendung und gegenwärtige Relevanz: Historische Ausstellungsansichten bringen Verlorengeglaubtes ans Licht, wie im Fall der Rekonstruktion eines Walskeletts durch den Restaurator Enea Conte. Dass gerade archivische Leerstellen Wissen produzieren können, zeigt Alona Dubova anhand der Fotografie eines Bartfisches. Mit der Aquarellzeichnung einer Mendesantilope von Anna Held, thematisieren Polina Kiourtidis und Hanna Wüste Paradoxien der Naturtreue von populärwissenschaftlichen Zeichnungen in den Naturwissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts. Luisa Marten identifiziert koloniale Imaginationen im fotografisch dokumentierten Akt der Tätowierung. Wie Bilder archivfachlich zu bewerten sind, wenn sie organisches Material enthalten, fragt Fiona Möhrle in ihrem Beitrag "Ist ein Tier ein Dokument?" Sarina Schirmer und Katharina Ziegler begeben sich ausgehend von einem Skizzenbuch Georg August Zenkers auf die Spur historischer Vogelpräparate. In Fortführung ihres früheren Beitrages in "Bilder der Natur" #1 nimmt Paula Zwolenski schließlich eine Neubewertung eines Glasdiapositivs aus kolonialhistorischer Perspektive vor.
Das Projekt "Bilder der Natur" geht auf eine Lehrveranstaltung im interdisziplinären Studienprogramms "Vielfalt der Wissensformen", gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), zurück. Studierende erarbeiteten Objekt-Biografien, die – ergänzt um weitere Beiträge – auf der Website des Museums für Naturkunde veröffentlicht wurden (Bärnighausen/Gräfe 2020). Seit seiner Initialzündung im Jahr 2020 wurde das Projekt kontinuierlich fortgesetzt: Für das Junge Forum für Sammlungs- und Objektforschung, das 2021 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ausgerichtet wurde, untersuchten die Herausgeberinnen die Bilderkartei der Historischen Arbeitsstelle als interdisziplinäres "boundary object" (Gräfe/Bärnighausen 2021). Es folgte ein Beitrag von Sophia Gräfe in der Reihe Bildwelten des Wissens über die Verwendung von Fotografien als Typus-Exemplare in den Naturwissenschaften (Gräfe 2022). Für die nun erscheinende zweite Auflage von "Bilder der Natur" konnten die Herausgeber*innen erneut sieben exzellente junge Forschende gewinnen.
Für die Unterstützung bei den Recherchen im Archiv des Museum für Naturkunde Berlin danken wir Sabine Hackethal, Michaela Lederle und Fiona Möhrle, ebenso Carola Radke für die Fotografien zu den einzelnen Beiträgen.
Abbildung oben
"Mammalia", eine bislang unerschlossene Fotokiste im Archiv, MfN, HBSB, Tierdarstellungen – Säugetier, unverzeichnet, © Carola Radke, MfN.
Bilder der Natur, Ausgabe 2, 03/2024
Bilder der Natur 2024/01 – Ist ein Tier ein Dokument? Fiona Möhrle
Bilder der Natur 2024/02 – Nach dem Leben gezeichnet Polina Kiourtidis & Hanna Wüste
Bilder der Natur 2024/03 – Fotografische Rekonstruktionen Enea Conte
Bilder der Natur 2024/04 – Reisende Bilder Sarina Schirmer & Katharina Ziegler
Bilder der Natur 2024/05 – Leerstellen im Archiv Alona Dubova
Bilder der Natur 2024/06 – Komplexe Zeichen Luisa Marten
Bilder der Natur 2024/07 – Unerkannt. Koloniale Fotografien Paula Zwolenski
Zu den Beiträgen von "Bilder der Natur", Ausgabe 1, 10/2020 Julia Bärnighausen und Sophia Gräfe
Literatur
Geoffrey Batchen: Photography’s Objects, Albuquerque 1997.
Peter Braun (Hg.): Objektbiographie: Ein Arbeitsbuch, Weimar 2015.
Elizabeth Edwards und Janice Hart (Hg.): Photographs Objects Histories: On the Materiality of Images, Routledge: New York 2004.
Sophia Gräfe und Julia Bärnighausen: "Bilder der Natur: Eine Ordnungsgeschichte der Historischen Bildsammlungen des Museums für Naturkunde Berlin", in: Eine Frage der Perspektive: Objekte als Vermittler von Wissen, Junges Forum für Sammlungs- und Objektforschung, Bd. 5, S. 57–73, hg. v. Gesellschaft für Universitätssammlungen e. V., Ernst Seidl, Frank Steinheimer und Cornelia Weber, DOI:10.18452/23913.
Sophia Gräfe: "Bilder als Typen. Digitalfotografie der Fliege Marleyimyia xylocopae (2014)," in: Museale Reste, Bildwelten des Wissens, Bd. 18, hg. v. Nina Samuel und Felix Sattler, Berlin/Boston 2022, DOI:10.1515/9783110733372-011.
Sabine Hackethal: "Die Historischen Schrift- und Bildgutsammlungen im Museum für Naturkunde und ihre Bedeutung für Sammlungsarbeit und Forschung", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Jg. 38 (1989), H. 4, S. 353–358.
Anita Hermannstädter, Ina Heumann und Katrin Pannhorst (Hg.): Wissensdinge. Geschichten aus dem Museum für Naturkunde Berlin, 2. Aufl., Berlin 2021.